Der Klang der Heimat

Der Glarner Bauer Walter Landolt erzählt, weshalb er nie den Drang zu reisen verspürt hat und was ihm Heimat bedeutet.

Walter Landolt: Die Welt der Berge ist ihm grossartig genug. (Bild: Michael Würtenberg)

Der Glarner Bauer Walter Landolt erzählt, weshalb er nie den Drang zu reisen verspürt hat und was ihm Heimat bedeutet.

Wer im Glarnerland auf der Suche nach einer typisch schweizerischen Postkartenidylle ist, macht nicht in Näfels Halt. Das Dorf im unteren Teil des Kantons, das seit der spektakulären Zusammenschrumpfung aller 27 Glarner Gemeinden zu dreien Glarus-Nord angehört, hat nichts Putziges.

Während andernorts heute bereut wird, was man in den 70ern aus dem Boden gestampft hat, scheint die Begeisterung für die «Modernisierung» in Näfels ungebrochen. Erst vor Kurzem wieder musste eine alte Häuserzeile im Dorfkern einem klotzigen Neubau weichen. Verpufft ist dafür die verkehrsberuhigende Wirkung, die einst die Walenseestrasse hatte: Pausenlos braust der Verkehr durch die Hauptstrasse ins enge Tal hinein oder aus ihm hinaus.

Direkt an dieser Hauptstrasse, kurz vor dem Ortsausgang Richtung Netstal wohnen Claudia und Walter Landolt mit ihrem 24-jährigen Sohn Marco. Der jüngere, der 20-jährige Reto, ist grad vor ein paar Tagen aus- und mit seiner Freundin zusammengezogen. Walter lebt schon seit seiner Geburt in diesem Haus, es ist seit 57 Jahren sein Zuhause, Näfels seit 57 Jahren seine Heimat. Nie hat er diese Heimat verlassen, er wollte es auch nie. «Daheim ist daheim. Ich habe nie den Drang gehabt, in die Fremde zu gehen, zu reisen.»

Hühnerhaut beim Alpabzug

Die längste Zeit, die er weg war, war während der Rekrutenschule. Da habe er, sagt Walter, das erste Mal «ächlei öppis anders gseh». Trotzdem kam Walter immer gern an den Wochenenden nach Hause. Wer gut geschossen habe, erzählt er, durfte früher gehen, manchmal schon am Freitag. «Ich habe mir immer Mühe gegeben.»

Walter ist Bauer, «17 Kühe, 7 Rindli, ein paar Kälbli». Die rund 12 Hektaren Land sind auf drei verschiedene Orte verteilt, zwei Wiesen im Dorf, dazu eine oben auf der Alp. Den Hof hat er von seinem Vater übernommen, als er 32 Jahre alt war. «Ich habe schon als Bub davon geträumt, Bauer zu werden», sagt Walter. Weshalb er, der jüngste Bub von elf Kindern, den väterlichen Betrieb übernommen hat – er zuckt mit den Schultern: «Ich weiss nicht, die anderen hatten halt anderes vor.»

Walter absolvierte die landwirtschaftliche Schule in Glarus, das Diplom, schön gerahmt, hat einen Ehrenplatz im Haus. Ebenso acht Kuhglocken, die alle in der Stube hängen. Preise, die sein Sohn Marco beim Schwingen gewonnen hat. Walter lässt sie klingen, «das zum Beispiel, das ist für mich Heimat». Oder das: Der Alpabzug, auch wenn er selbst nicht dabei ist. «Da kriege ich jedesmal Hühnerhaut.» Wenn die Tiere, geschmückt mit Blumen und Glocken um den Hals, zurück ins Tal kommen, dann höre er unten am Glockenklang genau, in welcher Kurve sie grad sind. «Ein Bauer», sagt Walter, «ist mit seinem Boden verbunden, mit der Natur, den Tieren».

Ach, das Meer…

Dass er keine Ferien machen kann, stört ihn nicht. Einmal hat er ein Flugzeug bestiegen, seiner Frau zuliebe, die in Budapest ihre Zähne machen liess. «Ich dachte, da klettere ich lieber auf einen Kirchturm; wenn ich abstürze, bin ich wenigstens selber schuld.» Nein, das muss er nicht mehr haben. Die Welt der Berge ist ihm grossartig genug. Wenn er dort oben mit den Ski durch den Tiefschnee laufen oder mit dem Feldstecher die Gämsen und Steinböcke beobachten kann, dann, sagt er, gehe sein Herz auf.

Statt in einer grossen Markthalle in Budapest, wo das Fleisch nach Kadaver stinke, ist er lieber auf dem Käsemarkt in Elm oder an der Bauern-Chilbi im Dorf. Und er ist glücklich, dass seine Frau gleich tickt wie er. «Sie hat sogar noch schneller Heimweh als ich.» Einzig das Meer, sagt Claudia, das würde sie schon gerne einmal sehen. «Ach, das Meer», sagt Walter, «das macht pfscht, pfscht, pfscht, und du siehst nichts als Wasser».

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 07.09.12

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