Der lange Schatten des Pharao

Ägyptens Ex-Präsident Hosni Mubarak ringt mit dem Tod. Doch das System, das der Pharao in 30 Jahren autoritärer Regentschaft aufgebaut hat, lebt auch ohne ihn weiter.

Wie es in Ägypten nach Hosni Mubarak weitergeht, bleibt ungewiss. (Bild: Keysteone/AP/Mohammed al-Law)

Ägyptens Ex-Präsident Hosni Mubarak ringt mit dem Tod. Doch das System, das der Pharao in 30 Jahren autoritärer Regentschaft aufgebaut hat, lebt auch ohne ihn weiter.

Das will er sich offensichtlich nicht antun. Mitansehen, wie ein Mitglied der Muslimbrüder in den Präsidentenpalast einzieht. Die Gesundheit von Ägyptens gestürztem Präsidenten Hosni Mubarak verschlech­terte sich in dem Moment rapide, als sich die Anzeichen verdichteten, dass Ahmed Shafiq, der Kandidat der Armee, trotz eines gigantischen Aufwandes an Geld und Personal die Stichwahl verlieren würde. Die Muslimbrüder nicht aufkommen zu lassen, war eine der Hauptaufgaben von Mubaraks Repressionsapparat.

Jahrzehntelang schmetterte der Herrscher alle Forderungen nach Demokratisierung ab. Stabilität war das Zauberwort seiner Politik, und er konnte auf die Unterstützung des Westens – vor allem der USA – zählen. ­Mubarak inszenierte sich als unantastbarer, altersloser Herrscher.

So entstand das Bild des «modernen Pharao» am Nil. Der Präsident herrschte mit grosser Machtfülle und war mit allen Mitteln darauf bedacht, sein Zepter nicht aus der Hand zu geben. Dabei konnte er sich auf loyale Sicherheitskräfte, aus deren Reihen er als ehemaliger Kampfpilot stammte, und den Geheimdienst abstützen.

Wunsch nach starkem Führer

Seit Mitte der 1990er-Jahre war den Ägyptern ein friedliches Dasein ohne grössere Erschütterungen beschieden. Den Preis dafür bezahlten sie in Form von eingeschränkten persönlichen und politischen Freiheiten in einem korrupten, autoritären Regime.

16 Monate nach den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz, die im Feb­ruar des letzten Jahres zum Sturz des Präsidenten geführt haben, scheinen viele Ägypterinnen und Ägypter die Zeiten dieser lähmenden Stabilität bereits vergessen zu haben. Sie wollen zwar nicht Mubarak zurück, aber eine starke Hand.

Der Wunsch nach einem Führer, der alle drängenden Probleme löst, ist nach wie vor weiter verbreitet als die Überzeugung, die Selbstverantwortung der Bürger sei der entscheidende Faktor. Dass der 84-jährige Mubarak weiter eine Rolle spielen könne, diese ­Illusion haben auch seine treusten Gefährten vor fast einem Jahr, am 3. August 2011, endgültig verloren. An diesem Tag wurde der Ex-Präsident zum ersten Mal auf dem Krankenbett in den Gerichtssaal gerollt.

Raffinierte Doppelstrategie

Dennoch wird immer klarer, dass das «System Mubarak» auch ohne ­Mubarak überlebt hat: Es hat den Kopf ­verloren, aber der Rest blieb mehr oder ­weniger intakt, vor allem der Sicherheitsapparat. Skeptiker warnten immer davor, dass die Generäle die Macht, die sie nach Mubaraks Fall übernommen hatten, nicht so leicht wieder abgeben würden. Die Frage war nur, wie die Inszenierung ablaufen würde.

Die Antwort ist nun klar: Es war eine Doppelstrategie. Mit vielen Nadelstichen wurden zum einen immer wieder Eruptionen von Gewalt aus­gelöst, um den Ruf nach einer starken Hand zu provozieren. Zum anderen präsentierte sich die Justiz in noch nie da gewesener Effizienz: Verfahren, etwa zur Feststellung der Rechtmässigkeit von Parlamentswahlen, wurden früher jeweils jahrelang verschleppt. Diesmal gab sich das Verfassungsgericht nur gerade zwei Monate Zeit. Und der Militärrat liess nur zwei Tage verstreichen, bis er die Türen des Parlamentsgebäudes versiegelte.

Ein anderes Gericht sprach Mubaraks Helfer aus dem Innenministerium von der Mitschuld am Tod von 850 Menschen in den Tagen der Revolution frei. Das Innenministerium mit seinem Repressionsapparat ist bis heute nicht reformiert worden. Das werde im Falle eines Militärputsches noch gebraucht, darum sei nichts geschehen, sagten vor wenigen Wochen Politologen voraus.

Die ver­schie­denen Gerichtsentscheide und die Ver­fassungserklärung des regierenden ­Mili­tärrates, die Stunden vor dem Ende der Stichwahl verkündet wurde, zeigen deutlich, dass die Generäle wieder fest im Sattel sind. Der künftige frei gewählte Präsident wird praktisch keine Befugnisse haben. «Er regiert nur über seine Frau», lautete ­einer der vielen sarkastischen Kommentare im Netz. Die Armee behält die Kontrolle über sich selbst, bestimmt über das Budget, hat die gesetzgeberischen Kompetenzen, dirigiert die Ausarbeitung ­einer Verfassung und hat neue polizei­liche Sondervollmachten.

Revolutionäre machten Fehler

Die Revolution steht wieder ganz am ­Anfang – dort, wo sie im vergangenen Frühjahr stand, nachdem Mubarak ­seinen Posten geräumt hatte. Alles, was die Demonstranten dem Militärrat mühsam abgerungen hatten wie etwa die Aufhebung des Ausnahmezustands, ist wieder rückgängig gemacht, der politische Transformationsprozess ad absurdum geführt worden.

Die Generäle versuchten zwar, ihre Aktionen schönzufärben, und kündigten an, dass sie wie geplant Ende Juni den neuen Präsidenten in sein Amt einführen würden. Dieser ist aber nichts weiter als ihre Marionette und nach der Par­lamentsauflösung das einzige gewählte Organ.

Viele Ägypter haben sich vom Schock dieses gewaltlosen Militärputsches noch nicht erholt, sind immer noch wie gelähmt und nach 16 aufreibenden ­Monaten zu müde, um sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Den Re­volutionären ist der Tahrir-Platz ge­blieben, den haben ihnen die Generäle überlassen, aber ihre Proteste zeigen keine Wirkung mehr.

Auch sie müssen über die Bücher. Sie haben ebenso wie die Muslimbrüder mit ihrem Unver­mögen, den politischen Neubeginn wirksam zu gestalten, dafür gesorgt, dass ihnen die Menschen davonliefen und 12 Millionen Ahmed ­Shafiq, einem Mitglied des innersten Zirkels des alten Regimes, ihre Stimme gaben. Mindestens einen Teil dieser ­Voten kann die Armee auch als Zu­stimmung zu ihrer Konterrevolution werten.

Kurz: Den Revolutionsgruppen ist es nicht gelungen, eine gemeinsame Plattform zu bilden. Einzelinteressen und Machtansprüche waren immer wich­tiger als der Aufbau von demokratischen Strukturen. Die Muslimbrüder sind ihrer lavierenden Haltung treu geblie­ben – wie einst unter Mubarak. Einmal haben sie sich mit den Gene­rälen angelegt, dann wieder mit ihnen paktiert, immer auf den eigenen Vorteil bedacht.

Die Tatsache, dass es den revolutionären Kräften nicht gelungen ist, sich auf einen Präsidentschaftskandidaten zu einigen, ist wohl der entscheidende Grund, weshalb diese Wahl in einem Desaster endete. Die Revolutionsgruppen werden sich zusammenraufen müssen, soll der zweite Anlauf, die Ideen der Revolution in Politik umzusetzen, in den kommenden Monaten gelingen.

Die Generäle dagegen scheinen genau zu wissen, was sie wollen, und offensichtlich ist ihnen auch der Preis, den sie für den Machterhaltung zahlen müssen, nicht zu hoch: Mit weiteren Monaten der Instabilität und Unsicherheit sind die Aussichten auf eine wirtschaftliche Erholung in weite Ferne gerückt.

Letztes Kapitel nicht geschrieben

Noch ist diese Wahl für Mubaraks Nachfolger nicht zu Ende. Die Wahlkommission hat die Ankündigung der Wahlresultate verschoben und damit Spekulationen geschürt, sie könnte Shafiq, den ehemaligen Premier unter Mubarak und Ex-Luftwaffenkommandanten, zum Präsidenten ausrufen – oder die ganze Wahl annullieren und damit den Putsch der Armee vollenden. Die Sicherheitskräfte bereiten sich bereits intensiv auf die Unruhen vor, die dann zu erwarten wären.

Die Gerüchteküche brodelt in Kairo. Niemand traut niemandem und schon gar nicht den staatlichen Informationsquellen – wie schon zu Mubaraks ­Zeiten. Das politische Chaos wird mit jeden Tag grösser, wie es der Pharao vorausgesagt hat.

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 22.06.12

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