Der lange Weg zum Fall des Sonderfalls

Spät, aber doch noch früh für dieses Land, führte Basel vor 50 Jahren das Frauenstimmrecht ein. Dass die Schweiz damit derart lange dem Ausland hinterherhinkte, ist Kräften geschuldet, die heute noch wirken.

Dieses «Ja» war garantiert: 72 Prozent der Baslerinnen forderten in der Frauenbefragung von 1954 das Stimmrecht ein.

(Bild: Plakatsammlung SFG Basel)

Spät, aber doch noch früh für dieses Land, führte Basel vor 50 Jahren das Frauenstimmrecht ein. Dass die Schweiz damit derart lange dem Ausland hinterherhinkte, ist Kräften geschuldet, die heute noch wirken.

Es gehört zum historischen Allgemeinwissen, dass das Frauenstimmrecht in der Schweiz «sehr spät», nämlich erst 1971, eingeführt worden ist. Das wird entweder mit leiser Scham oder verlegenem Lachen eingestanden. Zu weiteren Überlegungen kommt es in der Regel nicht – warum dies so war und ob die Kräfte, die eine frühere Beseitigung dieser Diskriminierung verhindert haben, politisch weiterhin am Werk sind.

Das vor 50 Jahren, am 24. Juni 1966, in Basel-Stadt eingeführte Frauenstimmrecht gibt jetzt Gelegenheit, sich mit der langen Vorgeschichte von «1971» zu beschäftigen. Diese Beschäftigung sollte über das reine Vergegenwärtigen des Datums hinausgehen und eine Ahnung davon entwickeln, welche Kräfte die politische Gleichstellung verzögert und welche Umstände die überfällige Reform schliesslich ermöglicht haben.

Fassbare Bemühungen zur Einführung des Frauenstimmrechts zeigten sich 1916, also vor 100 Jahren, mit der Gründung einer Basler Sektion des Schweizerischen Verbands für Frauenrechte. Diejenigen, die sich da zusammentaten – mehrheitlich Frauen, aber auch einige Männer – führten den Kampf über 50 Jahre hinweg. Zu einem grossen Teil waren es stets die gleichen Menschen, die sich nicht davon entmutigen liessen, dass sie in den kantonalen Volksabstimmungen von 1920, 1927, 1946 und 1954 wiederholt auf Ablehnung stiessen.

Total verinnerlichte Ordnung

Heute ist es unvorstellbar, unglaublich, unfassbar und unverständlich, dass «mann» den Frauen das Stimmrecht vorenthalten konnte. So wie es über Jahrzehnte vielen unvorstellbar war, dass die als selbstverständlich geltende Beschränkung der politischen Rechte auf männliche Staatsangehörige je aufgehoben werden könnte.

Ausgangspunkt des langen Weges zur Gleichstellung war die patriarchalische Vorstellung, dass Männer für die Gestaltung der ausserhäuslichen Welt zuständig seien und für die innerhäusliche Welt die Frauen, die man sich ausschliesslich als verheiratet und als Mutter vorstellte. Diese soziale Arbeitsteilung wurde zusätzlich mit biologistischen Zuordnungen untermauert, wonach die Männer rationale und kämpferische Wesen und darum für Politik geeignet seien, während man Frauen für emotionale und schutzbedürftige Wesen hielt und darum für Politik ungeeignet.

Die so geschaffene und begründete Ordnung war derart verwurzelt und verinnerlicht, dass Frauen die gegebene Geschlechterordnung selbst mitreproduzierten und anfänglich ein grosser Teil von ihnen das Frauenstimmrecht nicht nur nicht begehrte, sondern es auch offen ablehnte. Mit der Zeit wurden es aber stets weniger.

Im Rückblick scheint es fast gut, hat man die Frauen nicht schon viel früher gefragt, ob sie das Frauenstimmrecht wollten.

Lange Zeit wurde, jedoch vor allem von Männern, darüber diskutiert, ob Frauen das Stimmrecht überhaupt wollten. Bis 1954 der Forderung stattgegeben wurde, die Frauen in einer «Probeabstimmung» selber darüber befinden zu lassen. Das Votum war unmissverständlich: 72,6 Prozent der abstimmenden Frauen wollten das Frauenstimmrecht. Im Rückblick kann man sagen: Es war gut, dass diese Konsultation nicht viel früher stattfand. Sonst wäre es vermutlich keine so eindeutige Sache geworden.

Das klare Votum hinderte die männlichen Frauenstimmrechtsgegner freilich nicht, das Resultat wegen der «schwachen» Stimmbeteiligung von 60 Prozent schlechtzureden. Sie zählten die 40 Prozent der von der Urne ferngebliebenen Frauen zu den 27,4 Prozent Nein-Stimmen und kamen so zu erwünschten 67,4 Prozent «Gegenstimmen». Männerabstimmungen mit ähnlicher Stimmbeteiligung erfuhren nie eine derart abwertende und unredliche Beurteilung.

Die Wende

Die sogenannte «Probeabstimmung» von 1954, durchgeführt nach dem Genfer Vorbild von 1952, war die entscheidende Wende im mühsamen Prozess, politische Gleichstellung herzustellen. Als wenige Monate später das Frauenstimmrecht in der Abstimmung vom Dezember 1954 zum vierten Mal abgelehnt wurde, konnte man sagen, dass sich im Dezember 21’123 ablehnende Männer über den im Februar 1954 manifestierten Willen von 33’166 Frauen hinweggesetzt hätten.

Das Stimmrecht ist ein wichtiges Instrument der Partizipation an politischen Entscheidungen und auch der Durchsetzung gruppenspezifischer Anliegen. Das Stimmrecht hat aber stets auch eine symbolische Dimension und markiert jenseits von Abstimmungsvorgängen soziale Gleichstellung. Und schon deswegen – oder vor allem deswegen – wehrten sich patriarchalisch eingestellte Männer dagegen.

Es wurde sogar das Horrorszenario beschworen, dass eine Frau (Gattin) mehr Stimmen als der Hausherr erzielen und somit, wenn es um ein öffentliches Exekutivamt ging, dem Mann übergeordnete Herrin werden könnte. Ein anderes, ähnlich gravierendes Szenario bestand darin, dass man zu Hause am Familientisch verschiedener Meinung sein könnte, was aber nur hiess, dass der Patriarch nicht mehr der alleinige Meinungsinhaber wäre.

Es ist nicht so, dass Zeit einfach «reif» wird. Engagierte müssen sie reif machen. 

Warum konnte sich mit der Abstimmung vom Juni 1966 – endlich – das Ja durchsetzen? Die erste Erklärung gilt dem unermüdlichen Kampf der Kräfte, die sich gegen die Diskriminierung gewehrt und für deren Beseitigung eingesetzt haben. Dieser Kampf war mit der Überzeugung verbunden, dass man sich für etwas absolut Richtiges, weil Gerechtes, einsetzt und für ein Ziel, das man in jedem Fall erreichen wird. Der Durchbruch, um nicht das oft billig verwendete Wort vom Sieg zu verwenden, war eine Frage der Zeit – das heisst: eine Frage der Ausdauer und der Zeitumstände.

Der gesellschaftliche Wandel war ein objektiver «Verbündeter» dieses Engagements. Aber er wirkte eben nicht von alleine. Es ist nicht so, dass Zeit einfach «reif» wird. Engagierte müssen sie reif machen. Es gibt auch heute vorläufig noch dominierende Haltungen, die zeigen, dass viele kein Problem damit haben, dass gesellschaftliche Realität und geltende Regeln auseinanderklaffen – zum Beispiel in der Frage des Stimmrechts für Ausländerinnen und Ausländer.

Aber die gesellschaftliche Entwicklung hat geholfen, insbesondere die starke Zunahme der ausserhäuslichen Frauenarbeit. Dem stand aber die Haltung entgegen, dem sozialen Wandel mit der Einführung des Frauenstimmrechts gerade nicht Rechnung tragen zu wollen, sondern die Entwicklung – konkret die Berufstätigkeit der Frauen – mit Verweigerung zu bremsen oder sogar wieder rückgängig zu machen.

«Sonderfall» Schweiz

Die offensichtliche Differenz zum fortschrittlicheren Ausland war in der hin und her wogenden Debatte ein ambivalenter Umstand. Die Tatsache, dass die meisten vergleichbaren Länder das Frauenstimmrecht längst eingeführt hatten und die Schweiz als «dunkler Fleck» auf der Karte Europas erschien, war natürlich ein Argument für die Herstellung von politischer Gleichstellung auch in der Schweiz. Aus der Sicht der schweizerischen Aussenpolitiker war dies aber weniger eine Gerechtigkeits- als eine letztlich oberflächliche Imagefrage.

Und der Beitrag der Wissenschaft? Zunächst gabs den überhaupt nicht. Erst in den 1980er-Jahren wurde die Problematik mit wachsender Anerkennung zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion gemacht. Anita Fetz erinnert daran: «1978 fand an der Basler Universität die erste Tagung ‹Frau und Wissenschaft› statt. Es war ein Tour d’Horizon zu frauenorientierten Themen, die in der Wissenschaft bis dahin völlig ausgeblendet waren.»

Die Haltungen, die lange Zeit das Frauenstimmrecht verhindert haben, wirken an anderen Fronten weiter.

Gegner des schweizerischen Frauenstimmrechts liessen sich durch die Differenz zum Ausland, das heisst das eklatante Gerechtigkeitsgefälle, überhaupt nicht irritieren. Sie lehnten jede Vergleichbarkeit ab. Weil in der Schweiz nicht wie im Ausland eine bloss repräsentative, sondern eine direkte und darum anspruchsvollere und aus diesem Grund nur männertaugliche Demokratie herrsche. Zudem wurde hämisch darauf hingewiesen und daraus gerne ein scheinbar starkes Argument gemacht, dass in die Schweiz einheiratende Ausländerinnen kein Problem hätten, ihr billiges Auslandstimmrecht gegen eine schweizerische Staatsbürgerschaft ohne Stimmrecht einzutauschen.

Für viele Männer bekräftigte das fehlende Frauenstimmrecht in höchst willkommener Weise den schweizerischen Sonderfallstatus. Stellungnahmen legen die Vermutung nahe, dass man, auch wenn man sich mit dem Frauenstimmrecht an sich abgefunden hätte, dieses nicht gewähren wollte, weil sein Fehlen die Eigenheit der Schweiz gewährleistete.

Die Haltungen, die lange Zeit das Frauenstimmrecht verhindert haben, haben sich inzwischen nicht einfach im Nichts aufgelöst. Sie wirken an anderen Fronten weiter. Teils an der Front der weiterhin bestehenden Frauenbenachteiligung, teils auch an ganz anderen Fronten. An welchen weiteren, soll man selber herausfinden.

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Am Freitag, 24. Juni, 18 Uhr, findet in der Markthalle ein grosses und öffentliches Jubiläumsfest statt mit zahlreichen prominenten Gästen, von Regierungspräsident Guy Morin bis zur Poetry Slammerin Sophie Bischoff. Hier gehts zum Flyer. Im November erscheint im Christoph Merian Verlag das Buch «Das Basler Frauenstimmrecht» mit zahlreichen Beiträgen zum Thema, herausgegeben von Georg Kreis.


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