Otto Stich, der geborene Anti-Star, war auf dem Zenit seines Erfolgs ein Liebling der Medien. Ein Phänomen, das allen Regeln und Rezepten der PR-Apostel widersprach – ein Auszug aus der Autobiografie «Otto Stich: Ich blieb einfach einfach» mit Begleittexten von Ivo Bachmann (2011).
Was für ein Finale! Zürich, 23. September 1995. Es läuft die heisse Phase im eidgenössischen Wahlkampf. Christoph Blochers SVP mobilisiert zur Anti-EU-Kundgebung, die SP ruft zur Anti-SVP-Demo. Die einen marschieren mit Treicheln und Kavalleriepferden entlang der Bahnhofstrasse, die anderen strömen mit roten Fahnen und handgemalten Transparenten auf den Platzspitz.
Die Linke will ein Zeichen setzen für eine offene, solidarische Schweiz – und gegen den Stil der SVP, die mit Messerstecher-Inseraten gegen «Linke und Nette» hetzt. 12’000 «Blocher-Müde» versammeln sich, darunter ein paar Linksfreisinnige und Christlichsoziale, vor allem aber Genossinnen und Genossen jeden Alters. Ein grosser, bunter Haufen politisch Engagierter.
Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt Otto Stich. Der abtretende Bundesrat, noch knapp fünf Wochen im Amt, hat sich von Parteifreunden bewegen lassen, an der Anti-SVP-Veranstaltung teilzunehmen. Sein Auftritt wird von der Menge gross gefeiert – «Ottos letzter Sieg», schreibt der «Blick».
Leise im Ton – widerborstig in der Botschaft
Stichs Rede erfolgt in gewohnter Manier: leise im Ton, deutlich und widerborstig in der Botschaft. Die Inseratekampagne der SVP erinnere ihn «an die Propaganda der Nationalsozialisten». Kopfnicken in der Menge. Die Ausgrenzung politisch Andersdenkender dürfe «nicht zum Stil der politischen Auseinandersetzung in der Schweiz werden, genau so wenig wie Gewalt». Applaus. Und trotzdem müsse man auch mit einem Christoph Blocher «den Dialog führen». Einige Pfiffe.
Otto Stich auf dem Zenit seiner Popularität. Der geborene Anti-Star als Liebling der Massen, als Darling der Medien. Ein Phänomen, das allen Regeln und Rezepten der PR-Apostel widerspricht. Wie war das möglich?
Als Otto Stich im Dezember 1983, gegen den Willen seiner Parteileitung, in den Bundesrat gewählt wurde, brach via Medien ein heftiges Gewitter los. Parteimitglieder forderten ihn zum Rücktritt auf, die SP-Parteiführung verkündete den baldigen Austritt aus dem Bundesrat. Die wenigen linken Medien, die es damals noch gab, sahen in Otto Stich eine Marionette der Bürgerlichen. Und auch die meisten übrigen Journalisten gaben ihm wenig Kredit. «Ein vernünftiger Sozialdemokrat» – das war in etwa das Freundlichste, was in den Zeitungen über das neue Mitglied der Landesregierung zu lesen stand.
Lieblingsfeind des «Blick»
Mit besonderem Eifer schossen sich die Ringier-Medien, allen voran der «Blick», auf den Finanzminister ein. Sie hatten ihren «Willi» verloren. Stichs Vorgänger Willi Ritschard war der Liebling der Boulevard-Presse gewesen: bodenständig, witzig, eloquent. Zu jeder Wanderung bereit.
Sein Wegbegleiter war Frank A. Meyer; der langjährige Ringier-Chefpublizist fand in Ritschard einen Bruder im Geiste. Und einen Türöffner im Bundeshaus. Bald tafelte Meyer mit den Bundesräten, als wäre er Ständerat der vierten Gewalt. Mit Otto Stich kühlte sich diese Liaison schnell und deutlich ab. Meyers erstes Ersuchen um ein gemeinsames Mittagessen liess der neugewählte Bundesrat abblitzen. Auch später begegnete man sich nur mit kühler Höflichkeit.
Umso heissblütiger war der «Blick». Er erhitzte sich jahrelang am bocksbeinigen Finanzminister. Es war die erste wirkliche Personalisierung eidgenössischer Politik in den Medien. Ob Schwerverkehrsabgabe, Autobahnvignette oder Heizölzoll – der «Blick» kämpfte mit fetten Lettern gegen diese «Stich-Steuern».
Bald legte sich die «Neue Zürcher Zeitung» in den gleichen Schützengraben und zielte auf den «Fiskalisten Stich» und dessen «ideologische Halsstarre».
Otto Stich liess sich vom Kanonendonner in der Presselandschaft nicht gross beeindrucken. Er orientierte sich lieber an den Bürgerbriefen, die auf seinem Pult landeten. Diesen zufolge schien eine Mehrheit seine Politik zu unterstützen. Und je heftiger die Attacken wurden, umso mehr Respekt, gar Bewunderung, fand er im Volk – als Robin Hood der Bundeskasse, als Kämpfer für Steuergerechtigkeit.
Ausgerechnet das Fernsehen!
Beim Werben um die Volksgunst half ihm das Fernsehen. Ausgerechnet das Fernsehen! Otto Stich ist kein grosser Kommunikator. Er kann sich «weder in Szene setzen noch sich selber darstellen», wie Oswald Sigg, sein damaliger Pressesprecher, in einem Buchbeitrag erklärt («Otto Stich und die Kunst des Möglichen»).
Stich spricht betont leise, argumentiert ruhig und sachlich, referiert ohne jede Theatralik. Einzig sein Mimenspiel schafft Auflockerung. Man muss genau hinsehen und genau hinhören, wenn Otto Stich das Wort ergreift. TV-Kameras und Mikrofone ermöglichen dies.
Dabei begegnete Otto Stich den neuen Trends in den Medien, namentlich der Personalisierung politischer Sachgeschäfte, anfänglich mit grosser Skepsis. Diese Entwicklung hätten die schweizerischen Medien «zu unbedacht übernommen». Denn hierzulande seien die Träger politischer Inhalte meist Gruppen und nicht Einzelpersonen. Der «Zwang zur attraktiven Verpackung» könne zur «Verfälschung tatsächlicher Verhältnisse» führen.
Also waren von Otto Stich auch keine Homestories zu haben. Sein Privatleben schottete er völlig ab, seine Familie schützte er konsequent vor dem neugierigen Blick der Öffentlichkeit. Er war die Antithese zu den Medienkarrieren moderner Politiker. Seine Wanderungen im Jura und im Engadin unternahm er – mit wenigen Ausnahmen – ohne Pressefotografen.
Und trotzdem wurde Otto Stich zum Star der politischen TV-Debatte. Während andere Bundesräte über den konfrontativen Stil der Sendung «Arena» des Schweizer Fernsehens lamentierten und laut über einen Boykott nachdachten, stellte sich Stich mit trotziger Gelassenheit in den Ring und erklärte der Nation, warum man Steuern erheben, Mehrausgaben vermeiden, Schulden abbauen müsse.
Am Ende klatschten alle Beifall
Am Ende war nicht nur das Fernsehvolk überzeugt und die eigene Partei versöhnt. Auch der «Blick» klatschte Beifall: «Gut gemacht, Otto Stich!» Sogar die Bankenwelt fand anerkennende Worte. Otto Stich sei ein «überaus gewissenhafter Staatsmann», eine «starke Persönlichkeit» und ein «hervorragender, im besten Sinne haushälterischer Finanzminister» gewesen, lobte der Präsident der Schweizerischen Bankiervereinigung, der Basler Jurist Georg Krayer, nach Stichs Rücktritt aus dem Bundesrat.
Vom spröden Kassenwart zum gefeierten Staatsmann: die Geschichte von Otto Stich ist auch ein mediales Lehrstück. Es zeigt: Weit wichtiger als die geschliffen telegene Inszenierung sind Authentizität und Glaubwürdigkeit.
Der Genosse Otto sei zwar stets sehr stur und hartnäckig gewesen, jedoch «kein politischer Blender», erklärt Helmut Hubacher, der langjährige SP Parteipräsident. Und Hubacher zeichnet ein hübsches Bild: «Wer ihn einmal im Gartencenter beim Einkauf von Setzlingen beobachtet hat, begreift den Wandel vom Buhmann zu ‹Otti›: Er könnte der Nachbar von nebenan sein.»
Stich selbst meint: «Ich blieb einfach einfach.» Er blieb einfach er selbst. Stich, Otto; Schweizer Bürger und Sozialdemokrat, Dornach. Und dies – nicht sehr zur Freude der politischen Klasse – auch noch in seinen vielen Wortmeldungen als alt Bundesrat.
Auszug aus dem Buch: Otto Stich: Ich blieb einfach einfach. Eine Autobiografie mit Begleittexten von Ivo Bachmann