Der Menschensammler

Brandon Stanton hat sich vom Aktienhändler in Chicago zu New Yorks berühmtestem Strassenfotografen entwickelt. Jetzt ist «Humans of New York» zur ernstzunehmenden Spendenplattform geworden.

Brandon Stanton, Strassenfotograf und Gründer des Blogs «Humans of New York» am Union Square in New York. (Bild: Kathy Willens)

Brandon Stanton hat sich vom Aktienhändler in Chicago zu New Yorks berühmtestem Strassenfotografen entwickelt. Jetzt ist «Humans of New York» zur ernstzunehmenden Spendenplattform geworden.

Am Anfang war ein 13-jähriger Junge. Brandon Stanton fotografierte ihn in Brownsville, einer Gegend in Brooklyn, die von Plattenbausiedlungen, Sozialwohnungen und Hoffnungslosigkeit geprägt ist. Nirgendwo in New York ist die Kriminalitätsrate höher, nirgends ist die Armut grösser.

Und dann war da Vidal Chastanet. Der farbige Junge blickt unter seiner Kapuze verschmitzt in die Kamera, als trotze er der Trostlosigkeit um ihn herum. Stanton führte ein kurzes Gespräch mit ihm. Wer hat dich in deinem Leben am meisten inspiriert? Und wie? Vidal erzählte von seiner Schulleiterin Nadia Lopez, davon, wie sie den Schülern erkläre, dass sie ein wichtiger Teil der Gemeinschaft seien und im Gefängnis landen würden, wenn sie nicht hart arbeiteten. «Sie sagt uns, dass jeder Einzelne von uns zählt», so der Junge, dessen kleiner Körper in einer wuchtigen schwarzen Jacke verschwindet.

Das Bild samt Dialog postete Stanton auf seiner Facebook-Seite – und trat damit eine Lawine der Nächstenliebe los. Innerhalb weniger Tage klickten mehr als eine Million Nutzer auf «Gefällt mir», rund 144’000 Fans teilten den Beitrag auf ihrer Seite. Statt Orden an Schauspieler in Hollywood zu verteilen, schrieb eine Nutzerin unter das Bild, solle alle Anerkennung «Menschen wie Ms. Lopez» zuteil werden. «Ms. Lopez for President», ein anderer.

«Lasst sie uns nach Harvard schicken»

Wenige Tage später postete Brandon Stanton ein weiteres Bild. Es zeigte Schulleiterin Nadia Lopez. «Dies ist eine Gegend, in der nicht allzu viel von Kindern erwartet wird», so ein Zitat unter dem Foto. Sie selbst, sagte Lopez, setze die Erwartungen umso höher. Die Direktorin erzählte, dass Schüler und Lehrer an der Mott Hall Bridges Academy Violett trugen, weil dies die Farbe der Könige sei und sie ihnen beibringen wolle, dass sie zu etwas Grösserem gehörten.

Am selben Tag schrieb Stanton, er habe gemeinsam mit Lopez nach Wegen gesucht, wie er und seine Facebook-Fans helfen könnten, den Horizont der Schüler zu erweitern, von denen viele noch nicht einmal bis nach Manhattan gekommen waren. «Lasst sie uns nach Harvard schicken, damit sie lernen, dass sie es überall hin schaffen können», schlug er vor.

 

Auf der Seite Indiegogo Life startete Stanton eine Spendenaktion. Das Ziel: 100’000 Dollar zu sammeln, um den Schülern der sechsten Klasse eine Fahrt zu Amerikas bekanntester Elite-Universität zu spendieren. Nach kurzer Zeit war das Spendenziel erreicht, nach vier Tagen waren es eine Million Dollar, und die Summe wächst weiter. Mit dem Geld, erklärte der Blogger, könnten nicht nur die 191 Schüler der jetzigen sechsten Klasse, sondern auch die kommenden zehn Jahrgänge der Mott Hall Bridges Academy nach Harvard geschickt werden. «Ich habe es schon einmal gesagt», schrieb der 30-Jährige unter das Bild auf Facebook. «Dies hier ist die warmherzigste Gruppe an Menschen im Internet.»

Millionen von Lesern – pro Tag

Es ist diese Geschichte, die den Einfluss des 1,95 Meter grossen Mannes mit dem jungenhaften Aussehen auf den Punkt bringt. Sein Fotoblog «Humans of New York» lesen täglich Millionen von Menschen, auf Facebook hat Stanton mit über zwölf Millionen mehr Fans als die «New York Times». «Humans of New York» ist längst zur festen Institution der Stadt und des Internets geworden. Vor knapp zwei Jahren veröffentlichte Stanton ein Buch mit einer Auswahl der beliebtesten Porträts – und belegte damit über Monate den ersten Platz auf der Bestsellerliste der «New York Times». Im vergangenen Jahr folgte «Little Humans», ein Ableger mit Porträts von Kindern.

 

Im Sommer, mitten in der Krise im Mittleren Osten, reiste Stanton in einer Kooperation mit den Vereinten Nationen durch zehn Länder, darunter Israel, Jordanien und der Irak. In den 50 Tagen seiner Reise traf sich Stanton mit Menschen in Syrien, die ihr Haus im Bombenhagel verloren hatten, Kindern, die durch den Krieg zu Vollwaisen geworden waren und fotografierte Paare, die sich in Iran zu einem Date im Restaurant trafen. Das «Time Magazine» wählte ihn 2013 unter die 30 Personen unter 30, die die Welt veränderten. Inzwischen gibt es ähnliche Projekte in Städten wie Tel Aviv, Rom, Kopenhagen und in der Schweiz.

Am Anfang stand eine Niederlage

Angefangen hat alles mit einer grossen persönlichen Niederlage. Stanton war zum Opfer der Finanzkrise geworden, sein Arbeitgeber, die Investmentfirma Gambit Trading in Chicago, musste ihn entlassen. Da war Stanton 25 Jahre alt und gerade drei Jahre als Aktienhändler tätig. Den Job hatte der Mann aus Georgia bekommen, nachdem er 2008 auf einer irischen Website 3000 Dollar aus seinem Studienkredit auf einen Wahlsieg des damaligen Senators Barack Obama setzte. Ein Freund hielt das für so mutig und verrückt, dass er Stanton an die Handelsfirma empfahl. Das ging gut, bis die Märkte zusammenbrachen und Stanton sich auf der Strasse wiederfand.

Im November 2010 zog der arbeitslose Aktienhändler von Chicago nach New York. Er kaufte sich eine Spiegelreflexkamera und beschloss, seinem Leben eine Wendung zu geben. Eine Fotoausbildung hatte Stanton nicht, dafür ein umso grösseres Interesse an den Geschichten der Menschen in seiner neuen Wahlheimat. Sein Ziel war es, mit 10’000 Fotos eine Art fotografische Erhebung der Stadt zu erstellen. Jeden Tag lief er Dutzende Kilometer durch die Strassen Manhattans, Queens und Brooklyns – immer auf der Suche nach interessanten Gesichtern und Geschichten. Das Ergebnis postete er auf der Blogger-Plattform Tumblr und nannte es «Humans of New York» – die Menschen von New York.

Notizen macht er sich nicht, die Dialoge, die auf der Seite stehen, sind eher eine grobe Erinnerung an das, was gesagt wurde. Was ist dein grösstes Ziel im Leben? Was bereust du am meisten? Wenn du einer grossen Gruppe von Menschen einen Tipp mit auf den Weg geben könntest, was wäre das? Oft befinden sich auf den Bildern mehrere Personen, oft bleibt dann unklar, wer es eigentlich war, der gesprochen hat.

Es gehe ihm um die Geschichten, nicht darum, ob das Foto höchsten fotografischen Ansprüchen genüge, sagte der medienscheue Stanton vor zwei Jahren dem «Wall Street Journal». Geld verdiente er damit lange nicht. Stanton lebte zur Untermiete in einem kleinen Zimmer im Brooklyner Stadtteil Bedford-Stuyvesant und sah zu, wie seine Reserven aus der Zeit in Chicago zusammenschrumpften, während er acht Stunden am Tag und sieben Tage die Woche fotografierte.

6500 Porträts – bis jetzt

Inzwischen hat der 30-Jährige zwei Assistenten und mehr als 6500 Porträts gesammelt. Seine Bilder erhalten regelmässig mehr als 100’000 «Gefällt mir»-Klicks auf Facebook und sammeln Tausende Kommentare. Unter den Fans ist es zu einer Art Sport geworden, einen Kommentar abzusetzen, der seinerseits möglichst oft geklickt wird. «Jedes Porträt ist wie eine kleine Party, die wir für jemanden schmeissen», so Stanton im Interview mit dem «Wall Street Journal». In Brooklyn lebt er noch immer.

«Meine Frau hat mir beigebracht, Gefühle zu zeigen», steht unter dem Bild eines stämmigen Mannes in Bauarbeiterkleidung und Sicherheitshelm. «Sie hat es sogar geschafft, mich zu einem Romantiker zu machen. Wir gehen in den Park, wir legen uns auf eine Decke, wir haben ein kleines Pläuschchen.» 336’000 «Gefällt mir», 6300 Kommentare, über 7000 Mal geteilt. «Für dich ist es ein Pläuschchen, für sie ist es alles», schreibt Facebook-Nutzer Tim Shisler darunter – und erhält dafür seinerseits mehr als 21’000 Klicks und 425 Antworten. «Was ist der grösste Kampf, den Sie in Ihrem Leben gerade führen», fragt Stanton unter dem Bild eines Mannes, der bekleidet mit einer Lederjacke, die zu kalt für das Winterwetter der Stadt scheint, erschöpft an einer Hauswand lehnt. «Mit mir selbst ehrlich in Bezug auf wichtige Dinge zu sein», antwortet dieser. Was für Dinge, hakt Stanton nach. «Ach Mann, du bist ein Sauhund», lautet die Antwort, «ich hatte acht Gläser Wein.»

80’000 Dollar für eine Adoption

Doch aus dem blossen Fotoblog ist längst mehr geworden. Die Spendenaktion für die Schüler der Mott Hall Bridges Academy ist nicht die erste, die Stanton dank seiner Seite gestartet hat. Für einen Filmemacher sammelte er 80’000 Dollar, damit dieser ein Kind aus Äthiopien adoptieren konnte. Rumi, ein Junge, der im New Yorker Washington Square Park sass und erzählte, er spare auf ein Pferd, wurde von den HoNY-Fans auf eine Wildwest-Farm geschickt. Und als das Modelabel DKNY eines seiner Bilder ohne Erlaubnis verwendete, forderte der Blogger die Firma auf, 25’000 Dollar an ein Fitnessstudio im benachteiligten Brooklyner Stadtteil Bedford Stuyvesant zu spenden, in dem vor allem Familien aus der Arbeiterschicht angemeldet sind.

Vor zwei Jahren schliesslich startete Stanton gemeinsam mit seiner Freundin eine Art Weihnachtsbörse. Fans seiner Seite laden seitdem jedes Jahr andere New Yorker ein, die die Festtage fernab von ihrer Familie verbringen müssen und sonst niemanden haben, zu dem sie gehen können. «Humans of New York», schrieb die Internetzeitung «Huffington Post», gebe uns «Hoffnung auf eine bessere Welt».

Treue Fans trotz Kritik

Doch nicht jeder ist von dem Konzept überzeugt. In der Welt von «Humans of New York», schrieb die Seite Gawker, verkämen die Menschen zu Karikaturen. Stanton reduziere sie auf die wenigen Sätze, die er aus dem Zusammenhang reisse. «Fotos und Geschichten existieren vor allem, um bestehende Vorurteile zu füttern», kritisierte die New Yorker Internetseite. Die Reichen der Stadt posaunten auf dem Blog ihre Erfolge hinaus, während die Armen und Schwarzen die Gelegenheit nutzten, sich über ihr schweres Schicksal zu beklagen. Alte zeige Stanton in Nahaufnahme und mit allen Falten, während Kinder aus der Ferne zu sehen seien, damit man ja sehe, wie klein sie sind. Selten seien die Sätze, die unter den Porträts stünden, überraschend oder erhellend. «Stanton sieht die Menschen nicht so, wie sie sind, sondern als Abbild dessen, wie sie von jungen, weissen New Yorkern betrachtet werden.»

Die Fans bleiben Stanton trotz der Kritik treu. «Brandon, ich habe diese Seite erst vor Kurzem entdeckt, und mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, wie unglaublich dankbar ich bin für das, was du tust», schrieb Nutzer Angad Gummaraju unter ein Bild, das den jüngsten Zwischenstand der Spendenaktion verkündet und Schulleiterin Lopez mit ihren Schülern zeigt. «Deine Arbeit schafft es irgendwie, Leute aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen zusammenzubringen und zeigt ihnen die Dinge in einer anderen Perspektive. Du sorgst dafür, dass ich selbst mehr helfen will.» Mehr als 8000 Nutzer stimmten ihm mit einem «Gefällt mir» zu.

Motivierend wirkte HoNY auch auf US-Präsident Barack Obama: Am 5. Februar empfing er Vidal Chastanet und seine Schulleiterin im Weissen Haus.

 

Nächster Artikel