Der mit den Händen singt

Die 76. Ausgabe des Lucerne Festivals steht unter dem Motto «Psyche» – was Bundesrat Ueli Maurer und Neurobiologe Lutz Jäncke am Eröffnungsabend zu diskussionswürdigen Reden verleitete. Andris Nelsons und das Lucerne Festival Orchestra hingegen überzeugten.

Eröffnungskonzert: Das Lucerne Festival Orchestra unter der Leitung von Andris Nelsons. (Bild: Peter Fischli / Lucerne Festival)

Die 76. Ausgabe des Lucerne Festivals steht unter dem Motto «Psyche» – was Bundesrat Ueli Maurer und Neurobiologe Lutz Jäncke am Eröffnungsabend zu diskussionswürdigen Reden verleitete. Andris Nelsons und das Lucerne Festival Orchestra hingegen überzeugten.

Vor einem Jahr stand er noch selbst am Dirigentenpult, nun gedachte man ihm mit einer Schweigeminute: Claudio Abbado. Es ist noch immer viel Traurigkeit zu spüren über den Tod dieses grossen Künstlers, gerade beim Lucerne Festival. Denn hier schuf Abbado mit dem Lucerne Festival Orchestra einen Klangkörper von einzigartiger Strahlkraft, dessen fulminante Konzerte auch dem Festival eine gewisse Aura des Aussergewöhnlichen verliehen.

Mit Abbados Tod steht dieser Klangkörper nun zur Disposition. Denn eigentlich kamen all die Solisten, Kammermusiker und Orchesterführer aus Freundschaft zu Abbado allsommerlich an den Vierwaldstättersee. Wer könnte dieses Projektorchester nun noch zusammenhalten und inspirieren?

Auf ganz andere Weise

Diese anspruchsvolle Aufgabe hat – zumindest für die diesjährige Ausgabe des Sommerfestivals – der junge lettische Dirigent Andris Nelsons übernommen. Mit Erfolg, wie die Standing Ovations am Ende des langen Eröffnungsabends zeigten. Nur eben auf ganz andere Weise, als dies einst Abbado tat.

 Sanft und vergeistigt, licht und transzendent erschien Abbados Dirigat in den letzten Jahren; irdisch, impulsiv und markant jenes von Nelsons. Das reine Brahms-Programm, das Abbado einst noch gemäss dem diesjährigen Festivalmotto «Psyche» zusammengestellt hatte – Brahms‘ Serenade Nr. 2, die Rhapsodie für Altstimme (Sara Mingardo), Männerchor und Orchester, die zweite Sinfonie – dirigierte Nelsons nicht nur mit dem Taktstock, sondern mit dem ganzen Körper.

Er ging tief in die Knie, duckte sich eng über das Notenpult, um ganz leise Stellen, ein Nichts an Ton, anzuzeigen. Schwelgerische Melodien formte er kunstvoll mit seinen Händen in der Luft; Tanzrhythmen brachten viel Bewegung in seine Beinarbeit. Es war ein eigenes optisches Schauspiel, das der Dirigent da bot, aber auch ein ganz waches Zwiegespräch mit den Musikern, ein Locken und Mitreissen dieser grossen Mannschaft. Nur wenige Orchester können Nelsons Liebe zu Temposchwankungen so flexibel und unmittelbar umsetzen, können seine detaillierten Gestaltungsideen in hochaufgelöste musikalische Momentaufnahmen umsetzen.

Bescheiden und voller Versprechen

Dass die Musiker ihm nicht mit gleicher Hingabe folgten wie einst Abbado, verwunderte nicht. Zwischen all den ekstatischen Ausbrüchen wie in den Ecksätzen der zweiten Sinfonie, zwischen all den ausgesucht klangschönen Momenten, etwa in der tief besetzten und dennoch hell und leicht klingenden Serenade, gab es auch Phasen mit weniger Dringlichkeit.

«Abbado war ein Genie. Ich bin es nicht», sagte Nelsons kürzlich bescheiden in einem Interview. Doch mit 35 Jahren war auch Abbado das, was Nelsons heute darstellt: Ein junger, vielversprechender Dirigent. Auch wenn Festival-Präsident Hubert Achermann in seiner Ansprache viele Vorschuss-Lorbeeren verteilte und Nelsons als «genialen Künstler» bezeichnet, der das Erbe von Abbado, der «Lichtgestalt des Musikuniversums», antritt.

Stilblüten zu Beginn

Überhaupt bot der Redeanteil bei der Festivaleröffnung manch stilistische Blüte (erfahrene Festivalbesucher nehmen ihre Sitzplätze erst nach Ende des Redereigens ein). Bundesrat Ueli Maurer sinnierte über das www. bei der webadresse des Festivals und attestierte den Verantwortlichen deshalb «Werte, Wurzeln und Weitsicht», um schliesslich die klassische Musik als Werteträger und damit als Basis der Völkerverständigung zu vereinnahmen.

Der Neurobiologe Lutz Jäncke hingegen ging der Frage nach: «Mögen Tiere Musik?» Es mag Goldfische geben, die Blues von Barock unterscheiden können, es mag erwiesen sein, das Affen die Ruhe jeder Art von Musik vorziehen, das menschliche Baby sich aber genau umgekehrt verhält – zur Erhellung des Festivalthemas «Psyche» trug dies nur bedingt bei. Immerhin stellte Jäncke fest, dass der Mensch Musik mag, die er häufig gehört hat. Dies könnte erklären, weshalb am starren Ritual und der repetetiven Programmgestaltung im klassischen Sinfoniekonzert auch in Luzern stur festgehalten wird. Ausserhalb dessen testet das Festival eine Fülle an vielversprechenden neuen Konzertformaten. Hier hinzusehen und zu -hören dürfte sich lohnen.

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