Der Mythos von acht Millionen Ratten in New York

Ratten haben nicht gerade das beste Image. Schon gar nicht, wenn sie in Heerscharen eine Stadt belagern. Das Rattenproblem in New York ist allerdings weitaus kleiner als bisher angenommen, wie die Studie eines preisgekrönten Jungstatistikers zeigt.

Merlin, a Border Terrier, stands over a dead rat he killed during an organized rat hunt on New York City's Lower East Side July 25, 2014. The Ryders Alley Trencher-fed Society (R.A.T.S.) is a group of enthusiasts who take their dogs out to hunt rats in New York City. Members of the independent group venture out on night-time excursions to allow their dogs to do what they do best: hunt and kill vermin. Picture taken July 25, 2014. REUTERS/Mike Segar (UNITED STATES - Tags: ANIMALS SOCIETY TPX IMAGES OF THE DAY) ATTENTION EDITORS: PICTURE 14 OF 14 FOR WIDER IMAGE PACKAGE 'THE RAT CATCHERS OF NEW YORK' TO FIND ALL IMAGES SEARCH 'RYDERS ALLEY' - RTR41YDR (Bild: © Mike Segar / Reuters)

Ratten haben nicht gerade das beste Image. Schon gar nicht, wenn sie in Heerscharen eine Stadt belagern. Das Rattenproblem in New York ist allerdings weitaus kleiner als bisher angenommen, wie die Studie eines preisgekrönten Jungstatistikers zeigt.

Seit mehr als hundert Jahren geistert die Meinung herum, dass New York so viele Ratten wie Einwohner habe. Das wäre heute die wuselnde Masse von acht Millionen Ratten. New Yorks Rattenproblem ist unbestritten. Immerhin gab es schon 1857 die ersten Profis, die ihr Leben vollumfänglich durch Rattenbekämpfung finanzieren konnten.

Aber sind es wirklich gleich acht Millionen Ratten? Wie überprüft man eine solche Grossstadtlegende?

Jonathan Auerbach, ein junger unverdrossener Statistiker von der Columbia University, hat es mit statistischen Methoden versucht (die Studie als PDF) – wobei er einräumen musste, dass des Statistikers liebste Methode hier fraglos flachfällt: «Tiere erweisen sich bei Umfragen als furchtbar schlechte Auskunftspersonen.»

Behördlich verbotenes Experiment

Besser geeignet schien ihm eine Methoden, die Biologen zur Populationsmessung anwenden. Demnach hätte man 10’000 New Yorker Ratten fangen, markieren und wieder freilassen müssen. Einige Zeit später hätte man jeweils an denselben Orten wieder gleich viele Ratten fangen müssen, um zu ermitteln, wie viele markierte Exemplare ein zweites Mal in die Falle tappen. Hätte man zum Beispiel ein Prozent nochmals eingefangen, hätte man diesen Wert auf die Gesamtmenge hochrechnen können.

All dem stand dem Statistiker Auerbach nur ein winziges Problem im Wege: New Yorks Gesundheitsbehörde würde niemals zulassen, dass jemand so viele Ratten wieder freisetzt. Auerbach: «Ich weiss das. Ich habe gefragt.»

Auerbach musste also über andere Wege an Ratten-Daten gelangen. Und da kam ihm die 311 in den Sinn. Unter dieser behördlichen Rufnummer kann man in New York nämlich alles Mögliche melden, auch Rattensichtungen.

Wenn die Behörden einen schon nicht erlauben, Ratten zu fangen, um sie wieder auszusetzen, überlegte sich Auerbach, so könnte man doch wenigstens das geplante Experiment anhand solcher Meldungen nachbauen, die beim Gesundheitsdepartement sowieso vorliegen.

Raffiniert gerechnet

Auerbachs Idee: Wenn er wüsste, wo die New Yorker auf den 842’000 Parzellen der Stadt Ratten gesichtet und der Nummer 311 gemeldet haben, könnte er ein halbes Jahr später prüfen, ob auf denselben Parzellen erneut Ratten gemeldet worden sind. Solche Ratten entsprächen dann den bereits markierten Ratten im behördlich nun mal nicht erlaubten Wiederfreisetzungs-Experiment. Auch mit den via Rufnummer 311 ermittelten Daten könnte man auf ähnliche Art auf die Gesamtmenge Ratten schliessen.

Statistisch mag das logisch sein. Praktisch ist Auerbachs Idee allerdings nicht ganz einfach umzusetzen. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass aus 20 Prozent der New Yorker Bezirke glatte 50 Prozent aller Rattenmeldungen stammten. Ein Umstand, der offenbar im Zusammenhang mit der Bevölkerungsdichte stand, mit kulturellen Unterschieden, aber auch mit der Nutzung und Parzellengrösse, wie Auerbach erläutert.

Lange beschäftigte sich der Statistiker damit, die Bezirke ausfindig zu machen, die sich von der Geografie und vom Bevölkerungsmix her glichen sowie eine ähnliche Verteilung der Grundstücksgrösse aufwiesen. Am Ende der aufwendigen statistischen Berechnungen kam Auerbach zu einem Zwischenergebnis: In New York leben auf 40’500 Grundstücken Ratten. Diese 40’500 Rattenkolonien multiplizierte Auerbach mal 50, da gewöhnlich 40 bis 50 Ratten reviertreu in einer Kolonie zusammenleben. Und nun weiss man es: Es sind weit weniger als die behaupteten acht Millionen Ratten, die New York hat. Es sind knapp zwei Millionen – oder mit anderen Worten: Vier New Yorker teilen sich eine Ratte.

Woher der Mythos der acht Millionen Ratten kommt
Die Behauptung, es gebe in New York so viele Ratten wie Menschen, stammt aus dem Jahre 1909. Damals ist das Buch «The Rat Problem» von W. R. Boelter erschienen. Auf einer Reise durchs ländliche England hatte er die ihm begegnenden Leute gefragt, ob sie es für wahrscheinlich hielten, dass in ihrer Gegend eine Ratte pro Morgen Land vorkomme. Was diese wiederum meist mit einem «Ja» oder «Nein, das ist zu wenig» beantworteten. Auf Basis dieser – aus heutiger Sicht doch etwas fragwürdigen – Methode kam Boelter auf die Zahl von 40 Millionen Ratten, da die kultivierte Fläche in England damals 40 Millionen Morgen betrug. Per Zufall hatte England damals auch 40 Millionen Einwohner. Boelter musste daraus bloss noch den naheliegenden Schluss ziehen. So war die Hypothese geboren: Pro Kopf eine Ratte. Dieses «Gesetz» hat sich bis nach New York verbreitet und hält sich bis heute hartnäckig. Inzwischen geht man allerdings selbst in England davon aus, dass auf sechs Personen lediglich eine Ratte kommt.

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