Ein Leser wollte einem Obdachlosen helfen. Der Notfallpsychiater hat ihn am Telefon abgewimmelt und zur Polizei geschickt. War das in Ordnung – oder hat der Arzt seine Verantwortung nicht wahrgenommen? Versuch einer Antwort.
TagesWoche-Leser Felix Schneider hat vor einigen Tagen in einem Gastbeitrag erzählt, wie er einem verwirrten Mann namens Samuel helfen wollte. Der Mann sei mit viel Gepäck und barfuss auf der Strasse gestanden. Schneider wollte herausfinden, ob der Mann einen Platz zum Übernachten hatte.
Dabei gelangte er auch an den psychiatrischen Notfalldienst. Der zuständige Arzt habe sich jedoch geweigert, mit dem Verwirrten zu sprechen, ohne dass die Polizei eingeschaltet wird. Nicht nur Schneider war von diesem Verhalten irritiert. Seine Geschichte liess viele Fragen offen.
Zwei Fälle, in denen die Polizei zur Hilfe gerufen wird
Was ist die Rolle eines Notfallpsychiaters? Soll er einfach nur helfen oder muss er sich auch um die öffentliche Ordnung sorgen? Ist es wirklich nötig, dass bei einem solchen Notruf die Polizei involviert wird?
Der psychiatrische Notfalldienst ist eine Milizorganisation. Jeder Psychiater, der eine eigene Praxis betreibt, ist verpflichtet, pro Jahr eine bestimmte Anzahl Tage Notfalldienst zu leisten. Wir haben verschiedenen Ärzten die Geschichte von Felix Schneider erzählt. Die Reaktionen reichten von komplettem Unverständnis bis «Ich hätte genau so gehandelt».
Die Bandbreite der Einschätzungen ist Beleg dafür, wie unterschiedlich der Notfalldienst aufgefasst wird. Ob ein Psychiater mit oder ohne Polizei ausrückt, hängt von seinem subjektiven Risikoempfinden ab, von seiner Erfahrung und von seinem Tätigkeitsschwerpunkt. Im Prinzip gibt es zwei Fälle, in denen der Notfallpsychiater auf die Polizei zurückgreifen kann:
- Der Patient stellt eine Gefährdung dar, für sich selbst oder für die Öffentlichkeit.
- Der Psychiater schätzt die Situation als heikel ein, da er den Patienten nicht kennt und ihn in seinem Zuhause aufsuchen muss.
Während es im ersten Fall naheliegend ist, dass die Polizei alarmiert wird, hängt dies im zweiten Fall vom Notfallpsychiater selbst ab.
Manuel Rupp ist Psychiater und Autor von Büchern über Notfallpsychiatrie. Ausserdem ist er Mitautor des Notfalldienst-Breviers, einer Art Handbuch für die Notfallpsychiater in Basel. «Viele meiner Kolleginnen und Kollegen haben Respekt vor dem Notfalldienst», sagt Rupp, «denn es kann durchaus zu heiklen Situationen kommen.»
Nicht jeder Psychiater hat Erfahrungen mit Notfällen und heiklen Situationen.
Etwa wenn man auf einen Patienten mit einem Erregungszustand treffe. «Ein solcher Patient kann krankheitsbedingt unberechenbar und aggressiv reagieren. Diese Situation ist nicht zu vergleichen mit der Behandlung eines Patienten in der eigenen Praxis.» Deshalb gebe es Kollegen, die den Einsatz ausserhalb des Sprechzimmers scheuen, während erfahrenere eher in polizeilicher Begleitung ausrücken. «Das Erscheinen der Polizei wirkt in solchen Fällen meist sofort deeskalierend.»
Verständnis vom Leiter des Tageshauses für Obdachlose
Allerdings: «Die Abklärung, ob ein Polizeieinsatz nötig ist, sollte durch eine psychiatrische Fachperson sorgfältig getroffen werden», sagt Rupp. «Es wäre nicht in Ordnung, die ganze Verantwortung ohne nähere Abklärung und Erläuterung der Polizei zu überlassen.»
Paul Rubin leitet das «Tageshaus für Obdachlose» am Rand der Innenstadt. Auch er hat hin und wieder mit dem psychiatrischen Notfalldienst zu tun. Auf das Verhalten des Notfallpsychiaters im geschilderten Fall reagiert er mit Verständnis. «Meist sind diese Leute nicht krankheitseinsichtig, sie wollen sich also nicht von einem Psychiater behandeln lassen.» In diesem Fall könne der Notfallpsychiater erst eingeschaltet werden, wenn die verwirrte Person sich oder ihre Umgebung gefährde. Dass dann auch die Polizei ausrücke, sei naheliegend.
Helfer halten den Anblick dieses Elends nicht aus
Rubin gibt überdies zu bedenken, dass eine Situation wie Felix Schneider sie in seinem Gastbeitrag schilderte, oft vor allem für die selbsternannten Helfer schwierig auszuhalten sei. Die obdachlose Person hingegen wisse meist bestens Bescheid, wo sie Hilfe suchen kann. «Ich finde es richtig, dass Personen, die als ‹Störung› wahrgenommen werden, nicht einfach ohne Weiteres untergebracht werden können.»
Auch im «Tageshaus» würden oft Menschen anrufen, die jemandem helfen wollen. «Diese wünschen sich oft eine Rundumlösung und sind nicht zufrieden damit, dass wir hier lediglich eine Tagesstruktur mit Dusch- und Waschmöglichkeit sowie ein Mittagessen anbieten.»