Der plötzliche EU-Koller der Kroaten

Wenige Monate vor dem EU-Beitritt wächst in Kroatien die Furcht, im europäischen Krisenstrudel zu versinken. Bereits wirft die Wirtschafts- und Finanzkrise lange Schatten auf den Adria-Staat.

Niedergang: In kroatischen Werften wie jener in Rijeka (Bild) gingen in den letzten Jahren Tausende von Arbeitsplätzen verloren. (Bild: Nikola Solic/Reuters)

Wenige Monate vor dem EU-Beitritt wächst in Kroatien die Furcht, im europäischen Krisenstrudel zu versinken. Bereits wirft die Wirtschafts- und Finanzkrise lange Schatten auf den Adria-Staat.

Der britische Premierminister David Cameron hatte seine Landsleute­ im Sinn, als er kürzlich ein Referendum über einen EU-Austritt in Aussicht stellte. Ein ungewöhnlich lautes Echo löste er jedoch in Kroatien aus. Bei dem EU-Fast-Mitglied dominieren seither die nachdenklichen Töne. «Bislang wollten immer alle hinein in die Gemeinschaft. Wir auch. Nun streben die Briten dem Ausgang zu», hielt die Zeitung «Vjesnik» fest und sah darin ein neues Alarmsignal in Zeiten der Dauerkrise. Verlassen die Briten ein sinkendes Schiff?

Die Zweifel in Kroatien am bevorstehenden EU-Beitritt sind unüberhörbar. Am 1. Juli soll es so weit sein. Doch je näher das einst herbeigesehnte­ Datum rückt, desto grösser wird die Angst im Balkanstaat – Angst, dass ­alles noch schlimmer kommen könnte. Denn faktisch ist die «europäische Krise» in Kroatien längst angekommen. Sie ist Teil eines Abwärtstrends, der das gesamte östliche Europa zu erfassen droht – im Schatten des Niedergangs der Südländer Spanien, Italien, Portugal, Griechenland und Zypern.

Das Beispiel Kroatien lässt vor ­allem deshalb aufhorchen, weil die Annäherung an die EU bislang als Garantie für einen wirtschaftlichen Auf­schwung galt. So wuchs die Wirtschaft in den baltischen Staaten, in Slowenien, Tschechien, der Slowakei, Polen und Ungarn in den fünf Jahren vor der Osterweiterung 2004 um durchschnittlich drei bis acht Prozent. Anders ist nun die Lage auf dem westlichen ­Balkan: Zagreb meldete vor wenigen Tagen einen Rückgang des Brutto­inlandproduktes von 1,8 Prozent im Jahr 2012. Die Arbeitslosenquote schnellte seit 2008 von acht auf 18 Prozent in die Höhe.

Vielfältige Gründe

Die Gründe für den Niedergang sind vielfältig. Da ist der Strukturwandel, wie er idealtypisch in der Werften­industrie des Adria-Staates zu beobachten ist. Tausende Arbeitsplätze gingen in den vergangenen Jahren verloren. Rund 10 000 verbliebene Beschäftigte harren einer düsteren Zukunft. Das ist kein genuin kroatisches Problem. Die Schiffbauer in Europa haben den Konkurrenzkampf mit asiatischen Produzenten verloren. Auf dem westlichen Balkan fehlt es allerdings akut an Job­alternativen.

Längst sind die Zeiten vorbei, als westliche Konzerne neue EU-Länder als verlängerte Werkbank nutzten. Nach der Erweiterung von 2004 war das noch anders. Damals strebten Auto­produzenten, Handyhersteller und andere Industrieunternehmen in den Osten, um von geringen Lohnkosten zu profitieren. Die Slowakei stieg vorübergehend sogar zur Automobilgrossmacht auf, als dort in schneller Folge Volkswagen, Kia-Hyundai und Peugeot nagelneue Werke eröffneten. Inzwischen leidet die Branche unter Überkapazitäten. Schlimmer noch: Viele Investoren lassen Osteuropa links liegen und ziehen weiter, um ihre Waren in Bangladesch, Vietnam oder China produzieren zu lassen.

Die Blicke der Skeptiker richten sich auf den gesamten Osten.

Die Folgen sind in Kroatien zu besichtigen. Dort gingen die Auslandsinvestitionen nach der Finanzkrise von 2008 um 90 Prozent zurück. Die Anpassung an europäische Standards erfordert zusätzliche Anstrengungen. In kroatischen Medien ist von einem bevorstehenden «Beitrittsschock» die Rede. Als rettender Anker bleibt für viele Menschen nur der öffentliche Sektor, der als Spätfolge des Kommunismus noch immer aufgebläht ist. Das wiederum treibt die Staatsausgaben in die Höhe. Von der Einhaltung der Maastricht-Kriterien für einen Euro-Beitritt ist Kroatien mit einem Staatsdefizit von sechs Prozent weit entfernt. Erlaubt sind drei Prozent.

Experten sprechen bereits von ­einem «griechischen Szenario» in Kroatien. Erst in der vergangenen Woche stufte die US-Ratingagentur Moody’s die Kreditwürdigkeit des ­Adria-Staats von Baa3 auf Ba1 herab – Kroatien gilt damit als rein spekulative Anlage. Immerhin will Moody’s von einem Beitrittsschock nichts wissen. In ihrer Stellungnahme schreibt die Agentur: «Der erwartete EU-Beitritt ist eine ­positive Entwicklung, doch das europäische Umfeld und die Reformträgheit der Regierung werden den Nutzen­, der zu erwarten wäre, wahr­scheinlich begrenzen.»

Kroatien ist kein Einzelfall

Tatsächlich dürfte Kroatien allein zu klein sein, um die Gemeinschaft in eine neue Krise von existenziellem Ausmass zu stürzen. Doch genau das ist das «griechische Szenario». Im Süden­ erfasste der Abschwung schnell viele andere Länder. Und auch die Entwicklung in Kroatien ist kein Einzel­fall. Die Blicke der Skeptiker richten sich längst auf den gesamten Osten Europas. Ungarn und Rumänien etwa hängen mit akuten Finanzierungs­problemen am Tropf des Internationalen Währungsfonds. Slowenien, Tschechien, die Slowakei und die baltischen Staaten setzen auf drastische Spar­programme – Ausgang offen.

Die Entscheidung über das Wohl und Wehe des Ostens wird aber voraussichtlich in Polen fallen. Mit ­38 Millionen Einwohnern ist das Land nicht nur um das Vier- bis Zehnfache grösser als die Nachbarn im Baltikum, die Slowakei, Tschechien und Ungarn. Vor allem laufen in Warschau die politischen und wirtschaftlichen Fäden der Region ­zusammen. «Es ist verblüffend zu ­sehen, wie die Polen es mit viel Verhandlungshärte immer wieder schaffen, ihre kleineren Partner im Osten hinter sich zu vereinen», berichtet ein deutscher Diplomat.

Damit nicht genug. Ministerpräsident Donald Tusk und sein Aussen­minister Radoslaw Sikorski möchten mehr. «Wir haben eine Chance, uns in der Spitzengruppe Europas zu etablieren», sagt Sikorski. Der Weg dorthin soll über einen Beitritt Polens zur Euro-Zone führen. So will es Tusk. «Wir müssen uns entscheiden, ob wir zum Herzen Europas gehören oder ein Randstaat mit einer eigenen Währung sein wollen», erklärt der Premier und fügt hinzu: «Nur ein Polen im Zentrum des Kontinents ist ein gutes Polen.»

Das polnische Wunder verblasst

Unstrittig ist, dass ein Beitritt Polens die wichtigste Erweiterung der Währungsunion seit ihrer Gründung wäre. Ein dauerhafter Erfolg Polens könnte den Beitrittsländern im Osten den entscheidenden Schub verleihen, um sich aus der Krise zu befreien. Doch hat Polen das Zeug zum «Retter des Ostens»?

Lange sah es danach aus. Polen gilt als Wirtschaftswunderland. Im weltweiten Rezessionsjahr 2009 konnte sich Premier Tusk vor eine alarmrot gefärbte Europakarte stellen, auf der allein Polen hoffnungsgrün leuchtete. Das Land hatte als einziger EU-Staat ein Wachstum von fast zwei Prozent behaupten können.

Als wichtigster Grund für das «Wunder an der Weichsel» gelten die drastischen Einschnitte der 1990er-Jahre. «Wir haben die Menschen aus ihrer sozialistischen Schläfrigkeit gerissen und sie zur unternehmerischen Eigeninitiative gezwungen», erklärt der ehemalige Finanzminister Leszek Balcerowicz. Von 1989 bis 1991 und noch einmal zwischen 1997 und 2001 setzte er in Polen marktwirtschaftliche Strukturreformen durch, die seine Kritiker und Bewunderer als radikal bezeichnen.

«Wir profitieren davon bis heute», behauptet Balcerowicz. Er kann auf die Fortschritte der vergangenen Jahre verweisen. Inzwischen aber wachsen die Zweifel am polnischen Dauer­erfolg. Über den Winter stieg die Arbeits­losenquote erstmals seit sechs Jahren wieder auf mehr als zwölf Prozent. Und die Prognosen sind nicht gut. Jedes dritte Kind, das 2013 zur Welt komme, werde in ­Armut aufwachsen, meldete kürzlich die regierungskritische Zeitung «Rzeczpospolita».

Die Rückkehrwelle bleibt aus

Schlimmer noch ist für die polnische Wirtschaft die andauernde Abwanderung junger und meist gut qualifizierter Menschen, die ihr Glück im Westen suchen – sei es in Grossbritannien, den Niederlanden, Deutschland oder der Schweiz. Mehr als zwei Millionen Bürger haben Polen seit dem EU-Beitritt 2004 verlassen. Die Hoffnung auf eine Rückkehrwelle im Zeichen des Aufschwungs hat sich zerschlagen. Das Tusk-Grün verblasst.

Droht der EU also nach der Krise des Südens ein Osteuropa-Schock? Gefallen sind die Würfel noch nicht. «Vieles wird davon abhängen, wie sich die wirtschaftliche Situation in der Euro-Zone entwickelt», sagt Eckhard Cordes, Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft. Die osteuropäischen Wirtschaften leben zuallererst vom Warenaustauch mit den wohlhabenderen westlichen Nachbarstaaten. Das heisst aber auch: Die Krise in ­Gesamteuropa könnte sich schnell wieder verschärfen, wenn der Osten vollends aus dem Tritt geraten sollte. Kroatien marschiert vorneweg.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 08.02.13

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