Der Service Public ist in Gefahr – und keinen interessierts

Rund 50 Staaten verhandeln im Geheimen über das Freihandelsabkommen Tisa. Die Schweiz ist daran beteiligt und könnte von den Auswirkungen direkt betroffen sein.

Die Schweiz würde den Service Public von den Verhandlungen ausnehmen, sagt das Staatsskretariat für Wirtschaft (Seco). Kritiker meinen, das Tisa-Abkommen könne trotzdem drastische Konsequenzen für die Schweiz haben. (Bild: Nils Fisch)

Rund 50 Staaten verhandeln im Geheimen über das Freihandelsabkommen Tisa. Die Schweiz ist daran beteiligt und könnte von den Auswirkungen direkt betroffen sein.

Jeder hat Geheimnisse – auch Regierungen, Grosskonzerne oder internationale Organisationen. Wenn Politiker hinter verschlossenen Türen agieren, wirkt das für die Bevölkerung so, als hätten die Verantwortlichen etwas zu verbergen. Es erinnert an einen John-Le-Carré-Spionagekrimi, bei dem eine mächtige Elite geheime Absprachen trifft.

Die Verhandlungen um das Trade in Services Agreement (Tisa) erwecken genau diesen Anschein. Seit 2012 laufen zwischen rund 50 Ländern, darunter die EU-Länder und die Schweiz, geheime Verhandlungen über Tisa, das den Handel von Dienstleistungen betrifft.

Im Juni und Dezember 2014 erfuhr die Öffentlichkeit einige Details aus den Geheimverhandlungen. Die Enthüllungsplattform Wikileaks hatte Entwürfe aus dem Tisa-Abkommen veröffentlicht, die eigentlich vertraulich hätten bleiben sollen. Darunter waren Anhänge des Abkommens, welche die Finanzdienstleistungen und den Datentransfer betreffen.

Westliche Staaten diskutieren unter sich

Was darin steht, liest sich beinahe wie ein Wirtschaftsthriller: Die grossen Wirtschaftsmächte der Welt taktieren geheim ausserhalb der Welthandelsorganisation und planen die vollständige Liberalisierung des Dienstleistungsmarktes. Die Grosskonzerne lassen die Regierungen wie Marionetten tanzen, umgehen lästige Kompromisse und sichern sich Rechte auf praktisch alles. Der Aufschrei nach den Veröffentlichungen blieb ungewöhnlich leise, die Geschichte wollte bisher kein Bestseller werden.

 

Tisa ist das Erbe von Gats, dem allgemeinen Abkommen über den Dienstleistungshandel der Welthandelsorganisation, das Mitte 1995 in Kraft getreten ist und weiterentwickelt werden sollte. Das Mammutprojekt scheiterte aber am klassischen Nord-Süd-Konflikt. Die Entwicklungsländer verlangten die Öffnung der Agrarmärkte im Norden und die Industrieländer bestanden auf dem Patentschutz ihrer Medikamente. Also beschlossen die selbsternannten «Really Good Friends», ein Teil der westlichen Staaten, die Verhandlungen untereinander weiterzuführen und die Öffentlichkeit auszuschliessen.

Die Schweiz ist vom ersten Treffen an dabei und verfolgt ehrgeizige Ziele. Warum ist leicht erklärt: Drei von vier Betrieben des Landes sind Dienstleistungsanbieter und die Industrie gerät immer mehr unter den internationalen Wettbewerbsdruck. Der Bundesrat betreibt eine aktive Dienstleistungspolitik, die den Export von eigenen Leistungen pushen und die Ansiedlung von ausländischen Unternehmen begünstigen soll. Er setzt auf Tisa.

Bundesrat antwortet, Fragen bleiben offen

Davon verspricht sich die Regierung mehr Wettbewerb und grössere Handelsvolumen. Nach simplen Marktregeln würden Konsumentinnen und Konsumenten von tieferen Preisen und einem breiteren Angebot profitieren. Für das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) stellt die Teilnahme der Schweiz eine Chance dar, die internationale Rechtssicherheit für den Dienstleistungsexport zu stärken.

Problematisch wird es, wenn das Abkommen mit geltendem nationalen Recht kollidiert. Dienstleistungen sind nämlich auch öffentliche Güter. Bildung, Gesundheitswesen, Sozialversicherungen oder Verkehr sind Bereiche, die in der Schweiz unter dem Stichwort Service Public bekannt sind und gemäss Verfassung in Staatshand bleiben sollen. Obwohl die Schlagzeilen ausbleiben und sich die Entrüstung anfänglich auf globalisierungskritische Kreise beschränkte, werden bei der Bedrohung der öffentlichen Dienste zumindest linke Politikerinnen und Politiker sowie Gewerkschaften hellhörig.

Die Berner Nationalrätin Aline Trede (Grüne) war die erste, die den Bundesrat um Stellung bat. Mit mässigem Erfolg, wie sie erzählt: «Meine Interpellation war berechtigt und zielte auf mehr Information. Die Antwort war knapp, es bleiben viele offene Fragen.» Tredes Befürchtungen gehen weit: Im Worst-Case-Szenario würden Bildung, Wasser und Nahrungsmittelproduktion in die Hände der Grosskonzerne geraten, ohne dass man jemals wieder darauf Einfluss nehmen könnte.

Klagen von Internet-Giganten gegen die Schweiz

Dies, weil das Abkommen tückische Mechanismen enthält. Vor Tisa wurde à la carte verhandelt. Die Länder machten ihre Angebote und gaben Begehren bekannt, die geprüft wurden. Interessen und Ansprüche wurden offen diskutiert, was die Grenzen des freien Welthandels zum Vorschein kommen liess.

Tisa tickt anders. Grundsätzlich geht das Abkommen von einem völlig freien Markt aus, der durch nationale Verpflichtungslisten eingeschränkt wird. Die Bereiche, die mit Vorbehalten liberalisiert werden sollen oder gänzlich ausgenommen werden, müssen aufgelistet werden. Hier wird es knifflig. Für die Gegner von Tisa gilt der Mechanismus auch für zukünftige Dienstleistungen, die heute auf den Negativ-Listen fehlen. Das lässt den Thriller an Fahrt gewinnen und dystopische Szenarien aufkommen.

Wäre es dann möglich, dass Internet-Giganten gegen die staatliche Hoheit der Datensicherung klagen würden? Denkbar, dass Ladenketten gegen gesetzliche Ladenöffnungszeiten in der Schweiz vorgehen könnten? Für das Stopp-Tisa-Komitee sind diese Annahmen zwar Zukunftsmusik, aber durchaus realistisch.

Seco: Schweiz gibt nichts aus der Hand

Wirft man einen Blick über den europäischen Tellerrand, muss man sich eingestehen, dass dort, wo die Regulierungen schwach sind, Grosskonzerne äusserst aggressiv vorgehen können. Dass Nestlé teures Wasser in Entwicklungsländer verkauft und in den USA ganze Gemeinden aufkauft, um an Quellen zu gelangen, mag unmoralisch erscheinen – illegal ist es aber nicht.

Die Schweiz hat die Eingangsofferte zum Tisa-Abkommen veröffentlicht und nimmt darin den Service Public säuberlich aus. Das Seco betont, dass die Schweiz nichts aus der Hand gibt. «Der Mechanismus des Tisa enthält die Möglichkeit von nationalen Vorbehalten, und dies auch für zukünftige Massnahmen. Die Schweiz beabsichtigt, davon Gebrauch zu machen.»

Skepsis ist trotzdem vorhanden. Stefan Giger, Generalsekretär des Verbandes des Personals im öffentlichen Dienst VPOD, ist über den Druck eines solchen Abkommens besorgt: «Tisa hat globale Auswirkungen. Auch wenn die Schweiz den Service Public nicht antastet, könnte es sein, dass andere Länder mit einer schwächeren internationalen Position praktisch gezwungen werden, Privatisierungen durchzuführen.»

«Referendum ist sicher»

Ausserdem sind für Giger die Absichten im Finanzsektor und bezüglich Datentransfer klar: «Mit Tisa wird versucht, eine internationale Finanztransaktionssteuer zu verhindern und den Datenschutz aufzuheben.» Der VPOD setzt sich mit einigen anderen Organisationen für den Abbruch der Verhandlungen ein und wirkt auch international unter dem Dach der Public Service International PSI, die weltweit die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes vereint.

Welche Gerichtsbarkeit bei Streitfällen gelten soll, ist laut der Antwort des Bundesrates an die Interpellation von Aline Trede noch unklar und Gegenstand der Verhandlungen. Diese Frage ist für die Politikerin aber äusserst wichtig. Sie will nicht locker lassen und stellt weitere Vorstösse in Aussicht.

Bundesrat und Parlament müssen nach Abschluss der Verhandlungen das Abkommen genehmigen. Trede will dann dagegen kämpfen: «Für mich ist bei Tisa das Referendum sicher. Und wenn das vors Volk kommt, werden wir gewinnen.» Ob das Abkommen sich überhaupt unter das Referendum stellen lässt, ist ungewiss. Das Seco weist darauf hin: «Bevor der Inhalt des Verhandlungsergebnisses feststeht, kann die Frage der Unterstellung nicht beantwortet werden. In jedem Fall wird das Parlament den definitiven Entscheid fällen.»

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