Er ist anders als alle anderen Basler Trämlifahrer. Ein Bild auf Facebook sorgte dafür, dass viele Christof Meissburger ins Herz schlossen.
Letzte Woche traf es einen Kollegen von Christof Meissburger: Der Wagenführer eines Zweiers riss mit seinem Stromabnehmer die Fahrleitung herunter. Der Vorfall passierte nahe beim Bankenplatz. Die Basler Verkehrsbetriebe mussten an diesem Dienstagabend den Strom rund um die Kreuzung grossräumig abschalten – es kam zu einem Riesenstau.
Christof Meissburger fährt an diesem Abend einen Combino, einen Achter. Er bleibt zwischen Aeschen- und Bankenplatz im Tramstau stecken. Zuvorderst blockiert ein stromloser Zehner die Strecke. Christof Meissburger muss eine Zwangspause einlegen. Er zückt sein Buch und liest – und klick: TagesWoche-Bildredaktor Michael Würtenberg hält die Szene mit seiner Kamera fest.
Am nächsten Tag macht das Bild auf Facebook die Runde. Die Community kommentiert eifrig, findet nicht nur heraus, dass es sich um den singenden Trämlifahrer Christof Meissburger handelt, sondern notiert auch, dass er Terry Goodkind liest, einen amerikanischer Fantasy-Autor.
62 Seiten pro Tag
Inzwischen hat Meissburger den Schmöcker «Die Schwestern des Lichts» seines Lieblingsautors fertig gelesen. Drei Wochen braucht er für 1300 Seiten. Das sind 62 pro Tag. Während der Arbeit komme er aber gewöhnlich nicht zum Lesen, sagt er.
Dass die TagesWoche sein Bild auf Facebook gepostet hatte, erfuhr er von seiner Tochter. Er selbst hat sein Facebook-Konto gelöscht. Zwar kam auch er auf den Geschmack, doch igendwann fand der 52-Jährige, dass er damit zu viel Zeit vertrödle. Jetzt entziffert er lieber wieder mittelalterliche Handschriften oder geht in die Probe des Sankt-Franzikus-Chors in Riehen.
Meissburger singt für sein Leben gern. Als Zwanzigjähriger liebäugelte er mit einer Karriere als Opernsänger, hatte gar ein Angebot des Zürcher Opernchors. Doch seine Leidenschaft beschränkte sich aufs Singen, Theorie zu büffeln war nicht sein Ding. Und so stellte er die Weichen in seinem Leben anders. Inzwischen fährt er seit 25 Jahren Tram. Seine Leidenschaft für die Musik hat er sich bewahrt: Die Haltestellen «Musical-Theater» oder «Musikakademie» sagt er nicht an – er singt sie mit seiner Bassstimme vielmehr an. Je nach Lust und Laune auch einmal den «Bläsiring» oder die Haltestelle «Eglisee».
Er liebt Musik. Was er aber gar nicht mag, sind Strassenmusiker, die im Tram aufspielen. Das störe die Konzentration der Fahrer, sagt er. Er habe auch schon einen aus dem Tram geworfen, sagt er.
Sich bei einem Talentwettbewerb zu melden wie die singende Busfahrerin Maya Wirz aus dem Baselbiet, will er nicht. «Sie ist talentierter als ich», sagt der Basssänger. Doch selbst für solch begabte Sängerinnen sei es kaum möglich, von der Musik zu leben.
Leute sind nicht hektischer, aber aggresiver
Neben der Musik hat sich Meissburger noch etwas bewahrt: die Freude an der Technik und an Menschen. «Die Leute in der Stadt nerven mich nicht.» Natürlich sei der Stadtverkehr anstrengend. Hundertfach müsse er pro Tag einschätzen, ob ein Fussgänger oder Autofahrer noch rasch die Strasse überquert oder nicht. «Als Wagenführer muss ich immer auch für andere denken», sagt er.
Wenn er eine Notbremsung auslösen müsse und schon wisse, dass es «chlöpft», sei dies nicht so schlimm. «Wenn ich aber nicht einschätzen kann, ob es noch reicht, ist es unangenehmer.»
Spielende Kinder auf dem Tramgleis
Nur ungern erinnert er sich an zwei kleine Kinder, die mitten auf der Überlandstrecke zwischen der Prattler Lachmatt und Muttenz auf den Gleisen spielten. Dort fahren die Trams mit 60 Stundenkilometern. «Nach der Notbremsung zitterte ich am ganzen Körper», erinnert sich Christof Meissburger. Nicht immer gehen Unfälle so glimpflich aus wie dieser. Doch als Trämlifahrer müsse man halt mit solchen Ereignissen leben lernen. Wie auch mit unangenehmen Zeitgenossen im Strassenverkehr. «Die Leute sind heute nicht gehetzer, aber aggressiver als früher», sagt er. Wenn er einem Autofahrer klingle, zeige ihm dieser nicht selten den Stinkefinger. Provozieren lässt sich Meissburger aber nicht: «Dann sage ich mir: Der meint nicht dich, sondern das Tram.»
Auch Velofahrer sind für den Trämler kein Feindbild. Wenn er nicht arbeitet, ist er selbst häufig mit dem Velo unterwegs und kennt den Verkehr deshalb auch aus dieser Perspektive. «Es gibt wenig unvernünftige Velofahrer. Aber diejenigen, die sich an keine Regeln halten, sind nicht zu übersehen.»
Fehler kann er nicht rückgängig machen
Meissberger liebt seinen Job, auch wenn dieser härter und ermüdender sei, als viele sich gemeinhin vorstellen würden. Die Konzentration dürfe nie nachlassen, und Fehler könne ein Wagenführer auch nicht rückgängig machen. Wenn er etwa eine Weiche falsch stelle, mit dem 15er-Tram zum Beispiel, am Steinenberg zum Theater abbiege statt geradeaus Richtung Barfüsserplatz zu fahren, gebe es kein Zurück. Rückwärts zu fahren, wäre bei laufendem Betrieb zu gefährlich. Dann entschuldigt er sich für seinen offensichtlichen Fehler. Die Fahrgäste müssen dann einen Umweg in Kauf nehmen, bis er schliesslich wieder in die richtige Linie einfädeln kann.
An diesem Dienstagabend im September, als Christof Meissburger in der Aeschenvorstadt mit seinem Combino-Tram eine Stunde stecken bleibt, muss er schliesslich doch rückwärts manövrieren: zurück zum Aeschenplatz – was bei einigen Fahrgästen zu Unruhe führt. Doch Meissberger lässt sich dadurch nicht aus dem Konzept bringen.
Hektische Fahrgäste würden ihn nicht nerven, sagt er, das gehöre zum Tagesgeschäft. Seine allerliebsten Momente bei der Arbeit sind aber die stillsten. «An einem schönen Herbsttag ein Tram bei Sonnenaufgang zu fahren, das ist schlicht gewaltig!»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 21.09.12.
Soundfile nachträglich ergänzt, besten Dank an Leser Sandro Walter für die Aufnahme.