Der Staat entdeckt den Spitzensport

Spitzensport galt in der Schweiz als reine Privatsache. Inzwischen wächst die staatliche Hilfe. Basel-Stadt gehört seit zehn Jahren zu den Pionieren.

Egal, welche Sportart: Ohne die richtige Förderung wird heute kaum einer zum Weltmeister. Und ja, in Basel-Stadt gilt auch Ballett als Spitzensport: Tänzerinnen und Tänzer sind zu den Sportklassen zugelassen. (Bild: Anthony Bertschi)

Spitzensport galt in der Schweiz als reine Privatsache. Inzwischen wächst die staatliche Hilfe. Basel-Stadt gehört seit zehn Jahren zu den Pionieren.

Wenn es einer wissen muss, dann wohl Hippolyt Kempf. Denkt der Schweizer Olympiasieger von 1988 in der nordischen Kombination an die staatliche Unterstützung, die er in ­seiner Nachwuchszeit erhielt, kommt er zu einem vernichtenden Ergebnis: «Da reden wir eher von Hürden, die einem in den Weg gelegt wurden, als von Förderung.» Kempf ging als Jugendlicher nach Österreich ins Skigymnasium Stams, um Ausbildung und Sport vereinbaren zu können.

Heute ist er beim Bundesamt für Sport als Leiter Sport und Wirtschaft angestellt. Erst im Oktober ist seine Studie «Der Leistungssport in der Schweiz» erschienen, die jene Faktoren untersucht, die zu sportlichem Erfolg auf internationaler Ebene führen. Kempf sieht weiterhin Steigerungs­potenzial in der Schweizer Spitzensportförderung. Aber es hat sich einiges getan in den letzten Jahren.

«Früher, da wurde in der Schweiz nur die Breitensportförderung angeschaut», stellt Kempf fest, «Spitzen­sport wurde immer als Privatsache angesehen.» Ganz im Gegensatz zu anderen Nationen. Doch inzwischen scheint auch in der Schweiz der Staat den Spitzensport entdeckt zu haben.

Der Umweg über die freiwilligen Diensttage

Seit dem 1. Oktober ist die neue «Verordnung über den Militärsport» in Kraft. Sie bietet Absolventen der Spitzensport-Rekrutenschule, die in ihrem Sport in einem Nationalkader sind, neue Finanzierungsmöglichkeiten. Zwischen 100 und 130 Tage jener Zeit, die sie pro Jahr in ihren Sport investieren, dürfen sie künftig als militärische Wiederholungskurse abrechnen.

Die Sportsoldaten erhalten für diesen «freiwilligen Dienst» fünf Franken Sold am Tag und wie jeder dienstleistende Armeeangehörige ungleich mehr aus dem Ausgleichsfonds der Erwerbsersatzordnung (EO). Im Schnitt dürfte das pro Athlet im Jahr 32’000 Franken ausmachen. Das ist gleich viel, wie jene 18 Spitzensportler erhalten, die unterstützt werden, indem sie eine 50-Prozent-Stelle als Zeitsoldat haben.

300 potenzielle Nutzniesser

Derzeit gibt es rund 300 Sportsoldaten, die als potenzielle Nutzniesser der EO-Zahlungen infrage kommen. Wie viele von ihnen tatsächlich in einem Nationalkader sind und deshalb die Voraussetzungen erfüllen, um in den Genuss der Unterstützung zu kommen, ist offen. Würde bloss die Hälfte die sportlichen Diensttage einziehen, würde das rund 4,8 Millionen Franken jährlich kosten. Eine Obergrenze an Athleten, die auf diese Weise unterstützt werden, gibt es keine.

Sicher ist: Die Zahl der staatlich ­unterstützten Athleten in der Schweiz wird sich vervielfachen. Bislang gab es neben den 18 Zeitsoldaten nur noch 12 Wintersportlerinnen und -sportler, die 100 Prozent beim Grenzwachtkorps angestellt sind – und von Dezember bis April für Trainings und Wettkämpfe freigestellt werden.

Für Kempf ist die Lösung mit den freiwilligen WK-Tagen, die für den Sport eingesetzt werden dürfen, eine «sehr elegante». Schliesslich gab es in seiner Untersuchung einen Punkt, bei dem sich die 774 befragten Athleten praktisch einig waren: Alle glauben sie, dass es mehr finanzielle Unterstützung braucht, um mehr internatio­nale Erfolge zu erreichen.

40 Prozent der Sportler verdienen weniger als 14 000 Franken im Jahr.

Kein Wunder, bei den Zahlen, die Kempf präsentiert. Demnach mussten über 70 Prozent aller Schweizer Spitzensportler im Jahr 2011 mit Einkommen von unter 70’000 Franken auskommen. 40 Prozent verdienten gar weniger als 14’000 Franken. Es ist also durchaus eine massgebliche Hilfe, wenn die beiden Basel auf kantonaler Ebene seit Anfang 2013 insgesamt 17 Athletinnen mit 12’000 Franken im Jahr unterstützen, um sich auf Olympische Spiele vorbereiten zu können.

Als andere Kantone von der Unterstützung der Spitzensportler in den beiden Basel erfuhren, gab es nicht nur positive Reaktionen. Einige befürchteten, die Sportler ihres Kantons würden demnächst auch Geld fordern. Sandro Penta hätte Verständnis, wenn es so wäre. Vorerst aber freut sich der Leiter Leistungssport des Basler Sportamtes schlicht, dass die Region Basel wieder einmal etwas bieten kann, das die ­anderen noch nicht haben.

Die Unterstützung für potenzielle Olympiateilnehmer, vom Basler Regierungsrat Christoph Eymann vor den Spielen in London 2012 aus dem Hut gezaubert und nun auch von ­Baselland übernommen, ist nämlich nur das neueste Teilchen der Basler Spitzensportförderung. Während die staatliche Unterstützung auf nationaler Ebene erst richtig beginnt, hat sie in Basel schon fast Tradition.

André Bucher holt sich Tipps in Basel

Seit zehn Jahren ist Penta in Basel tätig. Und allein, dass es seine Stelle gibt, ist in der Schweiz aussergewöhnlich. Der Kanton Zürich stellte erst vor einem Jahr André Bucher als Beauftragten für Nachwuchs­förderung ein. Danach hat der 800-Meter-Weltmeister von 2001 erst mal in Basel vorbeigeschaut, um sich bei Penta ein paar Tipps zu holen.

Denn unter dessen Ägide sind in Basel entscheidende Punkte verbessert worden, die eine Sportlerkarriere beeinflussen können. In dieser macht Studienleiter Kempf drei Schlüsselmomente aus: ein sportfreundliches Umfeld beim Einstieg als Kind, eine schulische Lösung, die den Sport unterstützt, und schliesslich der Wille, sich nach der Pubertät auch bei den Erwachsenen durchzusetzen.

Mit Blick auf die Schweizer Sportlandschaft stellt Kempf fest: «Bei zwei dieser drei Karriere­schritte ist der Kanton entscheidend.» Denn es sind die Kantone und Gemeinden, die für die Sportinfrastruktur und schulische Lösungen zuständig sind.

Berufsberater, die Sportschülern von der Sportkarriere abraten

Um genau für diese zu sorgen, war Penta im August 2003 in Basel-Stadt als «Nachwuchssport-Koordinator» angetreten. Ganz bei null musste er dabei nicht beginnen. Aber fast. Die Sportklassen im Gymnasium Bäumli­hof gab es zwar seit dem Jahr 2000. Doch sie befanden sich in der Projekt­phase, die Aufnahmekriterien waren schwammig. Dazu kamen Sportclubs, die sich nach Basler Sitte lieber behinderten als zusammenzuarbeiten, und Berufsberater, die Sportschülern eindringlich vom Einschlagen einer Sportkarriere abrieten.

Penta stellte klarere Regeln für die Aufnahme von Sportschülern auf, drängte auf sportaffine Berufsberater und regte die Gründung von Leistungszentren an, in denen mehrere Clubs ihre Kräfte vereinen, anstatt sich zu blockieren. Von Anfang an ­arbeitete er eng mit dem Sportamt Baselland zusammen, so dass die Sportförderung der beiden Halbkantone heute kaum Unterschiede aufweist.

Matur, KV, Lehre – alles möglich

Inzwischen sind Sportklassen in Basel-Stadt und Baselland nicht nur im Gymnasium etabliert. Es gibt sie auch an der Wirtschaftsmittelschule und in der kaufmännischen Ausbildung. Dazu kommen an die 50 Betriebe in der Region, die Lehrlinge annehmen, welche neben der Ausbildung Spitzensport betreiben. Rund 400 Jugendliche durchlaufen derzeit in den beiden Basel eine solche Sportlerausbildung mit Schule oder Lehre, während der sie auch von Mentaltrainern, medizinischer Betreuung oder Ernährungsberatung profitieren.

Zehn Jahre dauert es im Schnitt, bis ein Talent zum potenziellen Olympiasieger gereift ist. Genauso lange arbeitet Sandro Penta in der Basler Nachwuchsförderung. 2012 stellte eine Untersuchung der Sportklassenabgänger der Jahre 2006 bis 2008 fest, dass über 40 Prozent von ihnen noch im Spitzensport aktiv sind.

Ein Olympiamedaillengewinner aber ist der Basler Sportförderung bisher nicht entsprungen. Dafür braucht es halt noch etwas mehr als eine gute Förderung: aussergewöhnliches Talent. Eines, wie es Hippolyt Kempf war. Der Unterschied zu damals: Ein kommender Olympiasieger muss heute nicht mehr ins Ausland, um Sport und Ausbildung unter einen Hut zu bringen. Zumindest, wenn er aus den beiden Basel kommt.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 15.11.13

Nächster Artikel