Der Tag nach dem Blutbad

Mit der Ausgangssperre ist die Gewaltwelle in Kairo abgeebbt. Die Menschen trauen der Ruhe aber nicht. Die Stimmung schwankt zwischen Schock und Bedauern, aber auch Erleichterung und Hoffnung auf einen Neuanfang.

Ein Bulldozer beseitigt die Reste eines Protestcamps. (Bild: MOHAMED ABD EL GHANY, Reuters)

Mit der Ausgangssperre ist die Gewaltwelle in Kairo abgeebbt. Die Menschen trauen der Ruhe aber nicht. Die Stimmung schwankt zwischen Schock und Bedauern, aber auch Erleichterung und Hoffnung auf einen Neuanfang.

Auch 24 Stunden danach liegt noch beissender Rauch in der Luft und die Reste von Tränengas bringen die Augen zum Überlaufen. Der Nahda-Platz oder Renaissance-Platz vor der Kairoer Universität sieht aus wie ein Schlachtfeld. Die ersten Autos bahnen sich mühsam wieder einen Weg zwischen Sandbergen und Müllhaufen, aber nur wenn sie sich vorher einer Kontrolle von Polizei und Armee unterzogen haben.

Deren Einheiten stehen nach wie vor an allen Zugängen zum weitläufigen Platz, der den Anhängern des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi während sechs Wochen neben Rabaa al-Adawiya in Nasr City als zweites, zentrumsnahes Protest-Camp gedient hatte. «Es lebe die Armee», bricht eine Gruppe Frauen in Jubelgeschrei aus, als zwei Panzerfahrzeuge mit jungen Soldaten an Bord wie im Triumphzug geräuschvoll vorbeibrausen.

Ein Festtag für Altstoff-Sammler

Auch jetzt sind wieder Bulldozer hier, wie vor 24 Stunden, als Armee und Polizei das Lager der Demonstranten gewaltsam aufgelöst, die Rednerbühne und Dutzende Zelte niedergewalzt hatten. Jetzt laden sie Tonnen von Müll auf Lastwagen und tragen die Mauer aus Sandsäcken am eisernen Tor vor der mächtigen Kuppel der Universität ab. Dutzende von privaten Altstoff-Sammlern – die Ägypter sind Weltmeister im Wiederverwerten –  wühlen sich durch die Reste des Zeltcamps. Alles was noch brauchbar ist, wird eingesammelt und weggefahren: Zeltplanen, Holzbalken, Metallteile, Plastikflaschen und sogar Kleider.

Die besten Stücke aber nehmen sich die Chauffeure der Baufirma Arab Contractors, die von der Regierung mit der Säuberung des Platzes beauftragt worden ist. Eine Gruppe ihrer Arbeiter sitzt auf einer Wolldecke im Schatten. Dort, wo vor Tagen die Anhänger Mursis campiert hatten. «Jetzt ist alles fertig, alles wird gut, General Sisi ist unser Held», meint einer von ihnen zufrieden strahlend.

Eine einzige Demonstrantin wagt sich zurück

Nur ein Porträt des gestürzten Präsidenten hoch oben an einem Lichtmast und ein grosses Transparent mit dem Aufruf «Vereinigt euch zur Verteidigung der Legitimität» haben den Sturm überlebt. Etwas verloren hat sich gar eine Demonstrantin zurück gewagt. Fatima ist von Kopf bis Fuss, das Gesicht inklusive, in ein schwarzes Gewand gehüllt. Sie trägt ein Plakat, auf dem sie die Freilassung des blinden Scheichs Omar Abdel Rahman aus amerikanischer Gefangenschaft verlangt.

Sie war jeden Tag hier, aber nur tagsüber. Als die Armee einfiel, war sie noch zuhause in der Nähe der Pyramiden. Die bekennende Salafistin ohne Parteibindung ist wütend. Amerika und Israel sind ihrer Meinung nach für das Blutbad verantwortlich. Ägypten werde brennen, die Islamisten würden die Räumung der Protestlager nicht hinnehmen. «Al-Nahda und Rabaa al-Adawiya sind überall», sagt sie neue Proteste voraus und betont, dass es nicht um die Person von Mursi gehe, sondern um Religion und Islam, die es zu verteidigen gelte.

Ein paar Strassenzüge entfernt öffnet  Adel zum ersten Mal nach 37 Tagen wieder seinen Laden für Geschenkartikel. Auch er hat kein gutes Gefühl. Die Geschichte lehre, dass nur ein Rechtsstaat Freiheit und Stabilität garantieren könne, lautet seine nüchterne Analyse. Ägypten sei aber kein Rechtsstaat, sondern eine Militärdiktatur ohne politische Vision.

Die Begründung der Regierung für die Auflösung der Camps lässt er nicht gelten. Die Demonstration auf dem Nahda-Platz hätte kaum gestört, sogar die Universität habe arbeiten können. Das sei kein Vergleich gewesen mit der Störung durch den besetzten Tahrir-Platzes während mehrerer Monate, im Zentrum der Stadt, wo wichtige staatliche Institutionen betroffen waren. Die Revolution im Januar 2011 sei wegen eines Toten, des Bloggers Khaled Said ausgebrochen. Am Mittwoch seien wohl Tausend junge Menschen gestorben. Die Schlüsse aus diesem Vergleich, könne jeder selbst ziehen, sagt Adel, der Mitglied der salafistischen Al-Waten-Partei ist, die die Demonstrationen für Mursi nicht unterstützt hatte.

Hasstiraden auf Muslimbrüder

Für schlimm, aber notwendig erachten zwei Geschäftsbesitzer auf einem lokalen Markt im Stadtteil Dokki die blutigen Ereignisse vom Mittwoch, nicht ohne die Leistung der Armee ausdrücklich zu loben. Die beiden haben ihre Rollläden immer noch unten, weil sie dem Frieden nicht trauen. «Die Muslimbrüder haben Geschäfte im Stadtteil Shubra angegriffen und geplündert», begründen sie ihre Vorsicht. Es folgt eine Hasstirade auf die Islamisten, wie sie in den letzten Wochen oft zu hören und in vielen Zeitungskommentaren zu lesen waren. Sie würden die Religion missbrauchen und ihre Anhänger seien alle dumm, würden noch weniger verstehen als jeder Hauswart, in Ägypten immer noch ein Synonym für einen Ungebildeten. Den Muslimbrüdern sei deshalb die ganze Schuld an den vielen Toten anzulasten.

Um neue Demonstrationen zu verhindern, empfehlen die beiden, gezielt die Führungskräfte der Islamisten zu verhaften. Auf diese Weise  würde die Bewegung zerfallen, meinen sie, die sich selbst als Mitglieder der «Sofa-Partei» bezeichnen. Das einzige Mal, dass sie politisch aktiv waren, war an der von den Tamarod-Rebellen ausgerufenen grossen Anti-Mursi-Demonstration am 30. Juni auf dem Tahrir-Platz. Damit, finden sie, hätten sie ihre Pflicht getan. Jetzt sei es an Armee und Politikern, ein Land ohne Muslimbrüder zu gestalten. Um das Wie kümmern sie sich nicht.

Viele Räder stehen still

Nur langsam kommt am Tag nach der Gewaltexplosion, die nun auch offiziell über 500 Tote gefordert hat, wieder Leben in die Mega-City. Das hängt nicht nur mit der Ausgangssperre zusammen, die bis um sechs Uhr verhängt war. Die Stimmung ist nur schwer zu beschreiben. Sie schwankt zwischen Schock und Bedauern, aber auch Erleichterung und Hoffnung auf einen neuen Anfang, wie schon so oft in den vergangenen zweieinhalb Jahren seit der Revolution.

Die Behörden haben mit verschiedenen Massnahmen dazu beigetragen, dass an diesem Tag vor dem islamischen Wochenende viele Räder stillstehen. Die staatlichen Ämter bleiben geschlossen, ebenso wie die Banken und die Börse. Auch Unterhaltungsveranstaltungen wurden abgesagt. Die Oper hat alle ihre Festivals und Konzerte bis auf Weiteres gestrichen. Kaum jemand ist in Stimmung, um zu feiern oder auszugehen; kommt dazu, dass die Ausgangssperre ab abends sieben Uhr gilt.

«Wir haben es unseren Mitarbeitern freigestellt, ob sie kommen wollen oder nicht», sagt der Chef einer grossen Architekturfirma in Kairo. Etwa 20 von 120 seien erschienen, die Lage sei eben in jedem Stadtteil sehr unterschiedlich, präzisiert er. Nur wenige Leute sind auf der Strasse. Jeder scheint nur das Notwendigste zu erledigen. Viele Stühle in den Kaffeehäusern bleiben leer, und wer dort sitzt, verfolgt mindestens mit einem Ohr die aktuellsten Nachrichten aus Fernsehen oder Radio, und die berichten schon im Laufe des Morgens, dass die Muslimbrüder ihre Anhänger zu neuen Demonstrationen aufgerufen haben.

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