Im September letzten Jahres hat sich Schottland in einem Referendum gegen die Unabhängigkeit ausgesprochen. Wie ist die Stimmungslage heute? Eine Spurensuche.
Es ist ein milder Frühlingsnachmittag in Edinburgh, die Sonne taucht die historische Altstadt in ein angenehmes Licht. Angestellte eilen zu ihren Bussen, in der Flaniermeile Royal Mile drängeln sich Touristen und Rugby-Fans aus Irland, die Pubs und Whisky-Bars sind gut gefüllt.
Vor der Princes Mall rappt ein junger Mann mit grauem Schlabberpulli, Röhrenjeans und schwarzem Baseball-Cap. Er wippt im Takt, hebt lässig den Arm und spricht seine Reime in ein Mikrofon. Er klingt ein bisschen wie Eminem. Jugendliche bleiben stehen und hören interessiert zu. Aus der Lautsprecherbox tönen Worte wie «Ich mach, was ich will» und «schottische Unabhängigkeit».
Elliott McNaughton heisst der Rapper, er ist 18 Jahre alt und hat beim Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands Ja gestimmt. «Wissen Sie», erklärt er, «wir fühlen uns nicht mehr von Westminster repräsentiert. Wir wollen selbst entscheiden.» Das Ergebnis der Abstimmung bedauert er: «Wir haben eine grosse Chance vertan.»
Jugendliche wollten Selbstbestimmung
Eine knappe Mehrheit von 55,3 Prozent hatte sich bei dem Referendum im September letzten Jahres gegen eine Unabhängigkeit ausgesprochen, in der Hauptstadt Edinburgh lag die Ablehnung mit 61 Prozent landesweit am höchsten. Vor allem die konservativen Eliten und Unternehmer stimmten für einen Verbleib im Vereinigten Königreich.
Interessanterweise war die Zustimmung unter den Jungwählern am grössten. Eine repräsentative Umfrage im Auftrag des konservativen Politikers Lord Ashcroft ergab, dass 71 Prozent der 16- und 17-Jährigen (beim Referendum durften Schottinnen und Schotten ab 16 abstimmen) für die Unabhängigkeit ihres Landes votierten.
So wie Rapper Elliott. Er verarbeitet seine politische Vision in Kunstform. Auch Elliotts Freund und Kollege Ben Nicholson hat für die Unabhängigkeit gestimmt. Er trägt ein schwarzes Baseball-Cap mit roter Aufschrift, eine graue Weste über der schwarzen Kleidung und viel zu grosse weisse Turnschuhe. «Wir wollen mehr Mitsprache», diktiert er dem Reporter in den Block. Das wirtschaftliche Risiko ficht den jungen Rapper nicht an. «Wir exportieren Öl und Whisky in die ganze Welt, die Leute in Russland trinken zum Teil mehr schottischen Whisky als Wodka.» Schottland könne allein von seinen Einnahmen leben.
Öl bringt kaum noch Steuereinnahmen
Die ökonomischen Bedenken waren der Hauptgrund, warum die «No-Campaign» am Ende obsiegte. Bei einer Unabhängigkeit hätte Schottland das Pfund als Währung nicht behalten können und wäre einstweilen nicht mehr Mitglied der Europäischen Union gewesen. Das Land hätte einen formalen Mitgliedschaftsantrag stellen müssen, der die einstimmige Zustimmung aller Staaten benötigt hätte und – wegen des anzunehmenden Vetos Grossbritanniens – höchstwahrscheinlich abgelehnt worden wäre. Die milliardenschweren Struktur- und Förderprogramme, die die EU für Schottland auflegt, wären eingefroren worden. Und auch die Zuwendungen aus London wären versiegt.
Zwar verfügt Schottland über reiche Erdölvorkommen. Doch wegen des Verfalls des Erdölpreises sind die Steuereinnahmen aus dem Rohölgeschäft dramatisch gesunken. Das Office for Budget Responsibility (OBR) schätzt, dass die Steuereinnahmen aus dem Ölgeschäft im Zeitraum 2016/2017 auf 600 Millionen Pfund sinken werden. Zum Vergleich: 2008/2009 waren es noch knapp zwölf Milliarden Pfund.
Die Scottish Nationalist Party (SNP), die die schottische Regierung in Edinburgh anführt, hat sich verkalkuliert. Der Ölpreis-Absturz hat ein riesiges Loch in den Haushalt gerissen. Laut einem Gutachten des Institute for Fiscal Studies liegt das schottische Haushaltsdefizit in diesem Jahr 40 Prozent höher als im gesamten UK.
Der fürsorgende Wohlfahrtsstaat, den der ehemalige Regierungschef und SNP-Vorsitzende Alex Salmond vollmundig versprach, verwandelt sich in ein Wunschgebäude. Und auch die fiskale Autonomie bleibt eine Illusion. Schottland ist in hohem Masse von England abhängig. Die öffentlichen Ausgaben lagen mit 10 275 Pfund pro Kopf in Schottland 15 Prozent über dem Landesdurchschnitt – nur das strukturschwache Nordirland erhielt noch mehr Geld. Die Region muss womöglich bald Strom aus England importieren. Wenn dann noch das einzige verbliebene Kohlekraftwerk in Longannet vom Netz genommen wird, könnten die Lichter in den Lowlands bald ganz ausgehen.
Schottland ist eine agrarisch geprägte Region, nördlich des wirtschaftlichen Speckgürtels zwischen Glasgow und Edinburgh dominiert die Landwirtschaft. In der Region Fife kann man sich ein Bild davon machen: Schafe weiden auf saftgrünen Wiesen, Bauern bestellen Gerstenfelder für die Whisky-Brennereien, ein Lastwagen transportiert Kohlesäcke, aus den Schornsteinen steigt Russ auf. Über manchen Landhäusern weht noch die königliche Flagge Schottlands, ein roter Löwe auf gelbem Grund.
Skepsis gegenüber Sonderweg
Das Kingdom of Fife ist die Heimat der schottischen Könige, in der alten Hauptstadt Dunfermline liegt Robert the Bruce begraben, der 1314 die Engländer in der Schlacht von Bannockburn besiegte und heute der Nationalheilige der Schotten ist. In der Studentenstadt Saint Andrews ist solch patriotisches Pathos weit weg. Im «Northpoint Cafe», wo sich William und Kate während ihrer Studienzeit kennenlernten, diskutieren Studenten über lateinische Grundbegriffe. Der Geschichtsprofessor Greg Woolf warnte vor finanziellen Risiken einer schottischen Abspaltung. In Saint Andrews zählt einzig die Unabhängigkeit der Lehre.
Auch der Kioskbesitzer in der South Street sieht einen schottischen Sonderweg skeptisch. «Das Referendum war nicht klug gedacht», sagt der Mann mit schottischem Akzent und dem markanten rollenden «R». «Es war eine emotionale Sache. Der Bauch sagte ja, aber der Kopf nein.» Das Referendum hat die Schotten gespalten, die Risse gingen mitten durch Familien.
In Koalition mit den schottischen Separatisten könnte Labour David Cameron aus Downing Street verjagen.
Alex Salmond, der noch immer so etwas wie der Spiritus Rector der schottischen Unabhängigkeitsbewegung ist, hat jüngst ein Buch mit dem Titel «The Dream Shall Never Die: 100 Days that Changed Scotland Forever» veröffentlicht. Die SNP wittert Morgenluft. Bei den britischen Parlamentswahlen im Mai könnte die Partei bis zu 40 Sitze erhalten – und so zum Zünglein an der Waage werden.
Der Spitzenkandidat der Labour Party, Ed Miliband, hat eine Koalition mit der SNP zwar ausgeschlossen. Doch in einzelnen Abstimmungen könnte Labour mit den schottischen Nationalisten gemeinsame Sache machen. Sehr zum Ärger von Premierminister David Cameron. Allein der Gedanke, dass ein Schotte den Engländern vorschreibt, was sie zu tun und lassen haben, ist den Konservativen ein Graus. Bei den Tories laufen daher Planspiele einer Minderheitsregierung. Der Stuhl von David Cameron dürfte bei einer Wahlniederlage wackeln. Um ihn herum wird nach einem Bericht des «Guardian» eine «Prätorianergarde» loyaler Anhänger gebildet, die ihn im Falle eines parteiinternen Putschversuchs schützen sollen.
Tories senken Whisky-Steuer
Innerhalb von Labour ist eine wie auch immer geartete Koalition mit der SNP umstritten. Einerseits könnte man David Cameron aus Downing Street verjagen. Andererseits müsste man mit der separatistischen SNP paktieren. Die schottischen Nationalisten treiben den Preis für eine Zusammenarbeit in die Höhe. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon (SNP) forderte ein Investitionspaket von 180 Milliarden Pfund.
Finanzminister George Osborne hat indes ein grosszügiges Wahlgeschenk verteilt: Die Freibeträge für Sparer werden erhöht, die Steuern auf Bier und Whisky gesenkt. Ein Prosit auf den Wahlkampf. Aber ob das für die Mehrheit der Tories im Unterhaus reichen wird?
Der junge Rapper Ben Nicholson aus Edinburgh würde eine Koalition von Labour mit der SNP begrüssen. «Eine Koalition ist besser als nichts», sagt er bestimmt. Auch wenn er das politische System Grossbritanniens mit seinen vererbbaren Sitzen im House of Lords für archaisch hält, könnten so schottische Interessen im Parlament durchgesetzt werden. Während die Politiker Wahlkampffloskeln zum Besten geben, feilen Ben und Elliott an ihren Rap-Parts. Ihr Traum von der schottischen Unabhängigkeit lebt weiter.