Die Schweiz habe Olympia dringend nötig, sagen die Befürworter. Doch die Vorbehalte der Gegner sind enorm.
Der Glanz ist verblasst an der Promenade in Davos. Vorbei die Zeiten, als «die höchste Stadt der Alpen» ein mondäner Kurort war, wo Frauen im Pelz daherkamen und Männer im Jaguar vorfuhren. Wo es einst nur exklusive Läden gab, bieten heute auch Discounter Ski an – und werden diese trotz tiefem Preis kaum los. Hotels, in denen einst Reiche residierten, können im Internet verhältnismässig günstig gebucht werden – und sind trotzdem nicht immer ausgelastet.
Die Davoser klagen über einen Drittel weniger Touristen in dieser Saison – und haben dennoch Hoffnung. Denn bald soll sich alles zum Guten wenden: dank Olympia, dem scheinbar perfekten Anlass, um das Bündnerland in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weltweit neu zu vermarkten.
Ein Fleck unberührte Natur
Dann gibt es aber auch noch das andere Davos, in dem vieles noch so ist wie früher und auch möglichst so bleiben soll. Es ist das Davos von Martin Büchi, der sich gerade seine groben Schuhe auszieht, bevor er ins Haus geht. Fotos von Eltern und Kindern hängen innen an der Tür, Gutzi liegen in einer Schale, aus der Maschine tröpfelt frischer Kaffee.
Das Leben der Büchis spielt sich auf diesem Fleck Erde am Davosersee ab, unweit des «Von-Sprecher-Hauses», das bis vor Kurzem dem Kanton Basel-Stadt gehörte. Die Familie ist glücklich, hier leben zu dürfen, wo die Natur nahezu unberührt ist und ihre Schafe im Frühling und Herbst ungestört weiden können. Es sind Milchschafe, ein «Nischenprodukt» in der Landwirtschaft – aber eines, von dem die Familie gut leben kann, wenn es auch mit der Ferienwohnung im Wohnhaus des Hofes gut läuft. Und das tut es. Auch jetzt sind gerade Gäste aus Deutschland da, traurig, bald in den Stadtlärm zurückkehren zu müssen. «Wo es hier doch so schön ruhig ist.»
Der Boden wäre nachhaltig zerstört
Mit der Ruhe könnte es aber bald vorbei sein: Als Martin und Doris Büchi im Sommer zusammen mit anderen Grundbesitzern zu einer Info-Veranstaltung geladen wurden, sahen sie ihr Land auf provisorischen Plänen für die Olympischen Winterspie-le 2022. Auf der Schafweide waren Gebäude eingezeichnet, dicht gebaut und direkt neben Wohn- und Arbeitsbereich der Büchis – Bauten für medizinische Versorgung der Olympia-Teilnehmer und Restaurants. Es war die bisher einzige direkte Konfrontation des Ehepaars mit Olympia. Seither hat sich keiner der Promotoren mehr gemeldet. Am Küchentisch bei den Büchis aber wird trotzdem darüber diskutiert. Tenor: «Wir wollen das nicht.»
Dennoch sagt Martin Büchi: «Ich möchte nicht als Verhinderer dastehen.» Er ist kein Polteri, aber einer, der seine Befürchtungen offen ausspricht: dass der Boden nach dem Auf- und Abbau provisorischer Häuser lange nicht mehr genutzt werden könnte. Darum ärgert er sich auch so über die Bezeichnung «freie Fläche», von der an der Veranstaltung im Sommer die Rede war. Er sagt: «Diese Fläche ist keine Prärie, das ist Landwirtschaftsland.» Und dieses besteht zu einem grossen Teil aus Torf. «Auf diesem Untergrund kann man nicht bauen», sagt Büchi. Beton müsste her.
Kandidatur als Werbung
«Danach wäre der Boden futsch.» Bis zu zwei Generationen könnten den Boden nicht mehr bewirtschaften, sagt er. Seinen Boden. Natürlich könnte man getrost sagen: «Die Häuser kommen nach den Spielen ja wieder weg – und dann haben Büchis wieder freie Sicht auf den See.» Doch Martin Büchi mahnt, dass auch diese Bauten Anschlüsse brauchten – und vor allem: viel Zeit, um gebaut zu werden. Das Land wäre also jahrelang «besetzt».
Ihm geht es nicht ums Geld, er weiss, dass er grosszügig entschädigt und sogar Gewinn machen würde – obwohl es noch keine konkreten Gespräche gab. Ihm geht es um das Leben als Bauer und um sein Zuhause. Wenn er über Geld spricht, dann höchstens über die 60 Millionen Franken, die allein für eine Kandidatur aufgewendet werden müssten. Die Befürworter sagen, das lohne sich in jedem Fall, die Kandidatur sei beste Werbung. Doch Büchi fragt: «Erinnern Sie sich, wer nebst Sotschi für die Winterspiele 2014 kandidierte?»
Zu lange auf den Lorbeeren ausgeruht
Am 3. März stimmen die Bündner über die Kandidatur ab. Ausgetragen werden sollen die Spiele dann 2022 in St. Moritz und Davos. Bisher ging es in der Debatte vor allem um St. Moritz, obwohl das Projekt in Davos eigentlich noch viel umstrittener ist, wie Umfragen zeigen. Kritisch eingestellt sind nicht nur die Betroffenen wie die Familie Büchi oder die Bauernfamilie auf der gegenüberliegenden Seite des Sees, die ihr Dorf, ihre Stadt schon für «genug verbaut» halten und die letzten noch freien Flecken retten wollen. Es gibt auch Davoser, die das Projekt schlicht für zu teuer halten. Für grössenwahnsinnig.
Sehr viel lauter sind aber die anderen, die glühenden Befürworter, die durch die Gegend weibeln und das Volk überzeugen wollen.
Zu lange auf Lorbeeren ausgeruht
Maurice Parrée und Tarzisius Caviezel sind zwei dieser Vorkämpfer für Olympia. Parrée ist als Hotelinvestor und Verwaltungsrat der Davos Destinations-Organisation ein Vollblut-Touristiker, während der frühere Nationalrat und neue Davoser Landammann Caviezel ein klassischer Freisinniger mit Unternehmergeist ist. Als langjähriger Präsident hat er den HC Davos wieder zum Erfolg geführt.
Er ist Vorstandsmitglied im Verein XXIV. Olympische Winterspiele Graubünden 2022 und will nun Olympia zum Durchbruch verhelfen, weil er überzeugt ist, dass die Spiele seinem Dorf, seiner Stadt zu neuem Glanz verhelfen würden. Dass vor allem der Tourismus profitieren könnte. Caviezel sagt: «Wir haben uns lange auf den Lorbeeren ausgeruht, vielleicht zu lange.» Viele Schweizer gingen inzwischen lieber in Österreich in die Ferien, die Spiele würden etliche von ihnen wieder zurückbringen. Olympia ist darum sein Traum – und dafür kämpft er. Die Zeit bis zur Abstimmung nutzt er, um auch das Volk davon zu überzeugen, dass die Ausgaben für Sportanlagen eine Investition in die Zukunft wären.
Omnipräsente Promoter
Ganz ähnlich wie er spricht auch Mitstreiter Parrée von einer «einmaligen Chance»: «Olympic City – das ist für die Ewigkeit.» Bei solchen Aussichten beunruhigt es ihn auch nicht gross, dass Davos jetzt schon mit 140 Millionen verschuldet ist. Das Geld sei bisher gut investiert worden, etwa in das Kongresszentrum. «Wäre Davos eine Firma, würde ich sie kaufen», sagt Parrée.
Die Männer sind nur zwei von unzähligen Olympia-Kämpfern. Im Gegensatz zu den Gegnern sind sie omnipräsent, im Fernsehen, am Radio und in den Zeitungen.
Rolf Marugg ist einer der wenigen Gegner, die in Sachen Medienpräsenz mithalten können. Als Kantonsparlamentarier der Grünen Davos und Mitglied des Nein-Komitees gibt es sich alle Mühe, die «intakte Landschaft» zu erhalten. Die Landschaft sei das «Kapital» von Davos und der «Qualitätsfaktor» für die Gäste. Von Nachhaltigkeit, einem der meistverwendeten Begriffe der Befürworter, will er nichts hören. Olympische Spiele seien schlicht «zu gross und zu riskant» für das Bündnerland.
Geliebtes Bündnerland mit Rissen
Diese Landschaft mit den sprudelnden Bächen, den majestätischen Bergen, den rauschenden Wäldern ist auch tatsächlich wunderbar, wie geschaffen für den Tourismusprospekt. Generationen von Kindern aus dem Unterland haben hier ihre Ferien verbracht. Und als Jugendliche waren sie auch noch mit ihren Klassen hier, die Basler im «Von-Sprecher-Haus» in Davos. Viele von ihnen denken ein Leben lang gerne zurück an das Bergabenteuer, an die gemeinsamen Streiche, die erste heimlich gerauchte Zigarette, den ersten Kuss vielleicht sogar. Und so ist, so wird das Bünderland zu einem Teil von einem selbst, zu einem Stückchen Heimat, auch für einen Unterländer.
In diesem schönen Bündner-Bild tun sich aber immer mehr Risse auf. Tiefe Risse, wie das Wegbleiben der Gäste in den letzten paar Jahren zeigt. Das Bündnerland hat wie überhaupt die ganze Schweiz ein Imageproblem – zu teuer und zu wenig gastfreundlich im Vergleich zur ausländischen Konkurrenz. Das schadet auch den weltberühmten Skiorten wie Davos oder St. Moritz. Und noch viel dramatischer ist die Situation in den entlegenen Tälern, wo es nie viele Touristen gab und inzwischen auch das Bauern nicht mehr zum Leben langt, trotz Millionenzahlungen aus Bern. Die Bündner Behörden gehen darum selbst in den optimistischsten Prognosen davon aus, dass eine Reihe von Dörfern in den nächsten Jahren aussterben wird. Noch gibt es aber einige Politiker und Wirtschaftslobbyisten, die sich mehr oder weniger verzweifelt gegen den langsamen Tod aufbäumen.
Mega-Event für Image
Sie wollen Arbeitsplätze schaffen und bessere Verkehrsverbindungen; sie hoffen auf neue Freizeitanlagen und Energiewerke, auf eine Schnellzuglinie durch den Bündner Untergrund, ein Silicon Valley in der Bündner Rheinebene und Goldabbau im grossen Stil. Und selbstverständlich träumen sie auch von Olympia, diesem Megaereignis, das der Schweiz wieder zu einem guten Image verhelfen soll – und dem Bündnerland zu einer besseren Infrastruktur.
Das ist das Versprechen, das den Bündnern auch in Bundesbern gemacht wird, vom Bundesrat und den höchsten Sportfunktionären des Landes. «Olympia wird eine starke Finanzspritze für den Tourismus und das Gewerbe sein», sagt zum Beispiel Jörg Schild, Präsident von Swiss Olympic. Der frühere Basler Polizeidirektor gehört auch zu all jenen, die das Bünderland schon früh lieben gelernt haben und nie mehr von ihm losgekommen sind. Heute lebt er zusammen mit seiner Frau in Flims, womit ein «Bubentraum» in Erfüllung geht, wie er selbst sagt.
Diese Liebe zum Bündnerland teilt ein anderer bekannter Basler: der Architekt Jacques Herzog. «Das Engadin ist eines der schönsten Gebiete auf der ganzen Welt», sagt er. Ansonsten ist er aber anderer Meinung als Schild. «Olympia brächte dem Bünderland gar nichts», sagt er. Oder höchstens: noch mehr Verkehr. Dabei gebe es auf den Strassen schon jetzt «Szenen wie im Mittelalter», einfach mit Autos statt mit Pferdefuhrwerken.
Wahrzeichen und Tempel
Überhaupt ist Herzog der Ansicht, dass die Schweiz schon jetzt viel zu viel Geld in den Berggebieten ausgibt. Sein Rat: ein «geordneter Rückzug» aus den abgelegenen Tälern. Solche Aussagen haben ihm den Vorwurf eingetragen, arrogant zu sein und – noch schlimmer – unschweizerisch. Weil er grosse Städte weiter stärken und schwache Dörfer aufgeben will.
Aber so denkt er eben, der Herzog. Und so wirkt er auch zusammen mit seinem Kollegen Pierre de Meuron. Gemeinsam haben sie in der ganzen Welt Projekte entwickelt. Nicht einfach nur Gebäude, nein, Herzog und de Meuron schaffen «Wahrzeichen», «Landmarks» und «Tempel» für Kultur, Sport und Unterhaltung; bestes Beispiel: das Olympia-Stadion von Peking. Umso bemerkenswerter ist nun seine Kritik an der angestrebten Bündner Kandidatur für die Olympischen Spiele.
Ebenso bemerkenswert war das Werk « Die Schweiz – ein städtebauliches Portrait», das Herzog 2006 mit dem ETH Studio Basel vorlegte und das auch heute noch vieles erklärt. Die Studie sollte zeigen, dass es in erster Linie die Metropolitanräume Zürich, Basel und Genf-Lausanne sind, die dem Land Entwicklung und Wohlstand verschaffen. Das Gegenstück sind die «alpinen Brachen» – jene Gebiete, die nach Ansicht von Herzog der Natur gehören müssten. Auch aus Kostengründen: «Die Subventionswirtschaft ist am Zerbröckeln.»
Originell und verrückt
Das gelte auch für Teile des Bünderlands, aber längst nicht fürs ganze. Resorts wie Davos und St. Moritz seien Zentren, in denen sich während ein paar Tagen im Jahr die «Welt der Schönen und Reichen trifft», wie er sagt.
Dafür brauche es keine Olympischen Spiele mehr. Für sinnvoll hält Herzog diese nur dort, wo eine neue Gesellschaft, ein neues Land entsteht. Dort, wo es neue Bauten, neue Strassen und neue ÖV-Linien braucht. So wie in China. Oder im Metropolitanraum Basel, im Dreiland, wo die gemeinsamen Projekte über die Landesgrenzen nur langsam vorankommen. «Wenn schon Olympia bei uns, dann hier», sagt Herzog.
Eine originelle Idee, wenn auch ein bisschen verrückt. Sonst klingt aber alles sehr rational und logisch, was Herzog sagt. Absolut nachvollziehbar. Wobei: Wenn man Jörg Schild hört, wie er mit seiner einnehmenden Art über die ständig mäkelnden Schweizer herzieht und über die Bündner Kandidatur schwärmt, würde man auch ihm sehr gerne glauben. So einzigartig bescheiden wie die Kandidatur sein soll. Und doch auch so wirkungsvoll für diesen wunderbaren Kanton, in dem man nach Ansicht von Schild kein einziges Tal, kein einziges Dorf aufgeben darf.
Natürlich gibt es trotz dieser Versprechungen auch in der nationalen Politik noch immer die prinzipiellen Olympia-Gegner wie den Aargauer SP-Nationalrat Cédric Wermuth, der das Internationale Olympische Komitee auf der gleichen Stufe ansiedelt wie die kriminellen Organisationen im Land seiner Vorfahren – Italien. Es gibt aber auch die Skeptiker, die sich ernsthaft mit dem Projekt auseinandersetzen. Beat Jans zum Beispiel. Der Basler SP-Nationalrat und Geschäftsleiter Natur bei ecos ist in der Projektgruppe «Nachhaltigkeit von Graubünden 2022», weil ihn persönlich interessiert, ob eine «andere Olympiade», eine naturfreundliche, nicht vielleicht doch möglich ist.
Olympia als nationales Generationenwerk
Bei der Abstimmung in Graubünden werden für die meisten Bündner aber ohnehin ganz andere Fragen als jene nach der Nachhaltigkeit im Vordergrund stehen: Wollen wir ein solch gigantisches Sportfest? Und wird vielleicht sogar die Restschweiz ihre Freude daran finden? Darum geht es schon jetzt im Abstimmungskampf. Und die Meinungen gehen auch in diesen Punkten weit auseinander: Olympia sei unnötig, weil es ohnehin schon mehr als genug Sportveranstaltungen gibt, sagen die Gegner, während die Befürworter das Projekt als einzigartige Gelegenheit für die ganze Schweiz darstellen. «Endlich können wir wieder einmal zeigen, was in der Schweiz alles möglich ist – wie an einer Expo», sagt zum Beispiel der Bündner SVP-Nationalrat Heinz Brand.
So gesehen würde es passen – Olympia in den Bergen als nationales Generationenwerk. Weil die Alpen ein Schweizer Mythos sind, wie Literaturpreisträger Peter von Matt in einem Interview sagte: «Wir Schweizer haben die grosse Fantasie, ein ideales Bergvolk zu sein, unabhängig, frei und naturhaft.» Darauf würden wir uns in schwierigen Phasen immer wieder besinnen, die Städter fast noch mehr als die Bergler.
Die wirklichen Probleme würden dabei verdrängt. Die langsame Zerstörung der Alpen mit immer neuen Bauten und die Umwandlung ganzer Gebiete in Funparks und Energie-Anlagen. Damit macht sich Literat von Matt die gleichen Sorgen wie Bauer Martin Büchi. Es ist die Sorge um den Bündner Boden. Ums Land. Doch was ist das schon gegen all die Hoffnungen, all die Versprechungen, die mit Olympia verbunden werden?
Ein Projekt für drei Milliarden Franken
Unter dem Namen «Graubünden 2022» bereitet sich der Kanton auf eine Kandidatur für die Olympischen Winterspiele vor. Ob das Bündnerland tatsächlich kandidieren wird, entscheidet am 3. März das Stimmvolk. Ziel der Befürworter ist es, dem Tourismus neuen Auftrieb zu geben. Sagt das Volk Ja, beteiligt sich der Kanton Graubünden mit 8 Millionen Franken am Kandidaturbudget von 60 Millionen Franken. Die Spiele würden in Davos und St. Moritz ausgetragen werden, wobei weitgehend vorhandene Anlagen genutzt würden. Dennoch müssten 1,5 Milliarden Franken investiert werden. Die Durchführung der Spiele würde 2,8 Milliarden Franken kosten.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04.01.13