Der Trick mit der halben Röhre

Der Bundesrat nimmt einen dritten Anlauf für den Bau eines zweiten Gotthard-Strassentunnels. Der Stau soll aber bestehen bleiben.

Halbe Portionen in neuen Röhren: Der Bundesrat will in den Gotthardtunnel nur noch einspurig befahren lassen. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Der Bundesrat nimmt einen dritten Anlauf für den Bau eines zweiten Gotthard-Strassentunnels. Der Stau soll aber bestehen bleiben.

Die Schweiz hat halt einfach Berge, die überwunden werden müssen. Früher mithilfe des Teufels (etwa in der Schöllenenschlucht), heute mit Tunnels. Beides prägt. Verhandelt man mit dem Leibhaftigen, muss man die Schlitzohrigkeit verinnerlicht haben. Und hat man erst einmal so viele ­Tunnels – mit der Neat-Röhre von Erstfeld nach Bodio sogar den längsten der Welt –, spielt einer mehr oder weniger eigentlich auch nicht so eine Rolle.

So ist die Schweiz wohl das einzige Land der Welt, dessen Regierung seinem Volk einen neuen, 17 Kilometer langen Tunnel durch den Gotthard aufdrängen will, obwohl dieses Volk schon zwei Mal gesagt hat, es wolle ihn nicht. Weil es keinen zusätzlichen Auto­verkehr möchte. Nun ist aber der Bundesrat so auf Tunnels versessen, dass er einen ganz schlauen Dreh ersonnen hat. Er verspricht eine Röhre zu bauen, die keinen zusätzlichen Verkehr generiert, keine Staus abbaut, keinen Verkehrsfluss erleichtert. Einen überflüssigen Tunnel also.

Tunnel und Alpenschutz

Überflüssig? So argumentieren natürlich Grüne, Linke und umweltbewegte Bürgerliche, die den Alpenschutz­artikel verteidigen. Aber nicht nur sie, sondern auch der Bundesrat. Er will zwar eine zweite Gotthard-Röhre bauen, aber gleichzeitig den Alpenschutz in der Bundesverfassung respektieren, den das Schweizer Volk im Februar 1994 beschlossen hatte. Und der besagt, dass die Strassenkapazitäten im ­Transitverkehr nicht erweitert werden dürfen.

Die Lösung, dem Volk einen Tunnel aufzudrängen, den es nicht will, sieht nun so aus: Falls die zweite Röhre denn einmal gebaut sein sollte, darf sie nur einspurig benutzt werden. Und in der ersten Röhre, die es mit einer Spur in den Süden sowie einer zweiten in den Norden heute schon gibt, dürfte – so plant es der Bundesrat – ebenfalls nur noch einspurig gefahren werden. Aus einer ganzen würde eine halbe Röhre, und trotz eines zweiten Autobahntunnels würde das Nadelöhr am Gotthard nicht grösser, die Staus nicht kürzer.

Ideologie und Legenden

Neue Gotthardröhre Ja oder Nein – diese Frage kann in der Schweiz nicht mehr unvoreingenommen und sachlich diskutiert werden. Zu viel Rhetorik und zu viele Argumente sind im langjährigen Kampf für und gegen den zweiten Tunnel zu Ideologie eingedickt, Anekdoten wie die vom tanzenden Urner Landammann nach dem Ja zur ­Alpenschutz-Initiative sind zu Legenden geworden. Darum hat der Bundesrat zum Buebe-Trickli gegriffen und die zwei einspurigen Röhren erfunden.

Das bundesrätliche Projekt kommt natürlich schon etwas raffinierter daher als hier beschrieben. Die Verschleiss­erscheinungen im bestehenden Tunnel kommen ihm zu Hilfe. Nach 40-jäh­riger Betriebsdauer (Eröffnung 1980) müsste das Bauwerk in abseh­barer Zeit saniert und deshalb gesperrt werden.

Damit die Touristen trotzdem in den Süden und die Tessiner in die Deutschschweiz fahren können, soll vor der ­Renovation des Tunnels diese zweite Röhre bereit stehen. Durch sie soll dann der Verkehr hindurchfliessen, bis die alte saniert ist. Der Bau des neuen Tunnels dürfte zehn Jahre dauern, die Sanierung des alten weitere zwei- bis dreieinhalb – zu Kosten von etwas mehr als zwei Milliarden Franken.

Autos auf die Bahn

Nun haben aber die Alpenschützer längst eine Lösung dafür, wie der Nord-Süd-Verkehr trotz gesperrtem Auto­bahntunnel durch den Gotthard gelangen kann. In spätestens fünf ­Jahren ist nämlich der Neat-Gotthard-Basistunnel für die Bahn betriebs­bereit, und mit dem rechtzeitigen Bau von Verladestationen im Urnerland und im Tessin können während der Sanierungsphase alle Autofahrer, die nicht über den Gotthardpass fahren wollen (oder im Winter nicht können), per Zug in ähnlich kurzer Zeit durchs Bergmassiv verfrachtet werden. «Das Bundesamt für Verkehr hat diese Variante durchgerechnet und ist zum Schluss gekommen, dass sie eine Milliarde Franken billiger ist als der Bau einer zweiten Röhre und dass sie funk­tioniert», sagt Thomas Bolli von der Alpenschutz-Initiative.

Das hält Ulrich Giezendanner, Gross-Fuhrhalter aus dem Aargau, SVP-Nationalrat und langjähriger, prominenter Verfechter der zweiten Autobahnröhre, für Mumpitz. «Den Neat-Basistunnel brauchen wir, um Jahr für Jahr mindestens 450 000 Lastwagen durch den Berg zu fahren. Da hat es keinen Platz mehr für einen ­Autoverlad.» Noch bevor der erste Zug durch den Neat-Tunnel gefahren ist, soll dieser also bereits verstopft sein. Thomas Bolli weist zwar darauf hin, dass die heute bestehende Eisenbahn-Gotthardstrecke nicht abgerissen wird und für den Lastwagen-Verlad weiterhin zur Verfügung steht. Aber er weiss auch, dass nun vorerst einmal eine epische Debatte darüber losgehen wird, wie viel Kapazitäten die fast 20 Milliarden teuren Neat-Tunnels durch Gotthard und Lötschberg und die alten Linien aufnehmen können.

Im Windschatten dieser Diskussion plant der Bundesrat und befürworten voraussichtlich die bürgerlichen Parteien den Bau einer zweiten, einspurigen Ersatz-Autobahnröhre durch den Gotthard. Das Volk soll nach 1994 und 2004 (Avanti-Vorlage) nicht nochmals befragt werden.

Dem Teufel hat man vor Jahrhunderten einen Ziegenbock geopfert, damit er die Brücke durch die Schöllenen baute. Dem Volk tischt man die Version einer künstlich verengten Röhre auf, um sich seine Zustimmung zu sichern. Ein Schelm, wer dabei Böses denkt! Etwa dies: Sind dann einmal zwei Röhren da und die Staumeldungen werden immer ärgerlicher, kann man die beiden ­Tunnelröhren immer noch zweispurig freigeben.

Der heilige Volkswille

Ulrich Giezendanner ist empört über eine solche Aussage. «Sie wissen ganz genau», sagt er, «dass ich die Verfassung achte und nie zulassen würde, dass der Volkswille missachtet wird. Wir dürfen die Kapazitäten nicht erhöhen. Technisch ist es kein Problem, einen zweispurigen Tunnel nur einspurig befahren zu lassen. Die Holländer machen das im Tunnel zum Botlek-Hafen auch. Auf der zweiten Spur steht alle sechs Meter ein Pfosten.»

Schön und gut. Aber, Herr Giezendanner, es wird doch ein Einfaches sein, die Verfassung mit einer Volks­abstimmung zu ändern, wenn die zweite Röhre erst einmal gebaut, die erste Röhre saniert sein wird und die Mil­liarden gezahlt sind?  «Wie alt sind Sie?» fragt er zurück. «Jahrgang 1953.» «Genau wie ich», sagt er. «Und wissen Sie was? Eine solche Abstimmung fände frühestens in 20 Jahren statt. Dann wird sie uns nicht mehr gross beissen.» Da allerdings dürfte sich Giezendanner täuschen. Die Alpenschützer werden nicht abwarten, bis sich zeigt, ob der Bundesrat mit seinen einspurig befahrbaren Röhren Wort hält – und das Volk schon in ein, zwei Jahren mit einem Referendum an die Urne rufen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 29.06.12

Korrigiert am 1. Juli 2002: Man hat dem Teufel nicht ein Schaf geopfert, als er die Brücke über die Schöllenen gebaut hatte. Sondern einen Ziegenbock. Das war falsch in der Version, die heute Nachmittag aufgeschaltet wurde. Und es steht falsch in der gedruckten TagesWoche vom 29. Juni. Sorry! Bildredaktor Michael Würtenberg hat mich freundlicherweise darauf aufmerksam gemacht. (Urs Buess)

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