Der militärische Konflikt zwischen ukrainischer Armee und prorussischen Separatisten hat lange Zeit keine Schlagzeilen mehr gemacht. Doch die Kämpfe flammen wieder auf, erstmals seit einem Jahr steigt die Zahl der Opfer wieder an.
Sie sind Gestrandete des Krieges, jene Handvoll Menschen, die sich am Rande der ostukrainischen Grossstadt Donezk in einem Luftschutzbunker eingerichtet haben. Sie schlafen auf Holzpritschen, kochen auf einem tragbaren Elektroöfchen.
Hier, in der drückenden Luft des Kellers, harren sie aus und warten. Wie lange noch, wissen sie nicht. «Man hat uns vergessen», klagt eine ältere Frau mit braunem Kurzhaarschnitt, deren Füsse in klobigen Lederschuhen stecken. In ihre Wohnung wagt sie sich nicht zurück, auch wenn die Einschläge im Bezirk Petrowskij mittlerweile selten geworden sind. Geld, das zur Reparatur ihrer teilzerstörten Wohnung nötig wäre, hat sie nicht. Ihre Rente reicht gerade zum Überleben.
Schicksale wie jenes der Donezker Rentnerin gibt es im Donbass zuhauf. Fast täglich sterben trotz des vereinbarten Waffenstillstandsabkommens im Konfliktgebiet Menschen. Doch nur ab und zu kommt der Konflikt zwischen ukrainischer Armee und den von Russland unterstützten Separatisten in die Medien. Wenn etwa, wie am vergangenen Samstag, das Auto des Luhansker Separatistenführers Igor Plotnitzki in die Luft gejagt wird. Plotnitzki überlebte mit schweren Verletzungen.
Die höchste Opferzahl seit einem Jahr
Lange Zeit sah es so aus, als würde aus dem Krieg in der Ukraine ein eingefrorener Konflikt werden. Doch zuletzt hat sich die Intensität der Gefechte wieder erhöht, und weil die Schusswechsel in besiedeltem Gebiet stattfinden, steigt auch die Zahl der Opfer: In einem aktuellen Bericht meldet die UNO, dass die Zahl der zivilen Opfer mit zwölf Toten und 57 Verletzten im Juni 2016 fast doppelt so hoch war wie im Vormonat. Im Juli gab es gar 73 zivile Opfer, acht Tote und 65 Verletzte – die höchste Zahl seit August 2015. Mehr als zwei Jahre nach Ausbruch des bewaffneten Konflikts haben sich die Menschen in einem Dauerprovisorium zwischen Krieg und Frieden eingerichtet.
Eine Passantin und ein pro-russischer Separatist vor einem durch Beschuss beschädigten Haus in Donezk. (Bild: Keystone/ALEXANDER ERMOCHENKO)
Vor allem die Bewohner entlang der 500 Kilometer langen Frontlinie sind zum Grossteil auf sich allein gestellt. Die Organisation «Verantwortungsvolle Bürger» ist eine der wenigen, die Menschen in den frontnahen Gebieten – im Volksmund «Graue Zone» genannt – mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt. Seit Februar ist die von jungen Donezker Bürgern gegründete Hilfsorganisation nur noch auf der von der Kiewer Regierung kontrollierten Frontseite aktiv, nachdem die Separatisten den Helfern von einem Tag auf den anderen die Arbeitserlaubnis entzogen hatten.
Auch die OSZE ist unter Beschuss
Die Einstellung der Kampfhandlungen wäre das wichtigste Ziel für die Zivilisten, sagt Mitarbeiterin Olga Kosse: «Der Wiederaufbau kann nicht in Gang kommen in Gebieten, die regelmässig beschossen werden.» Zwar versorgten die «Verantwortungsvollen Bürger» die Notleidenden, «doch die grundlegenden Probleme werden damit nicht gelöst», sagt die 24-Jährige. Die Helferin berichtet, dass mehrere Gemeinden von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten seien und nur Nutzwasser zur Verfügung hätten. Die Folge: Erkrankungen innerer Organe und der Haut nehmen zu.
«Die Menschen müssen zudem 30 Kilometer fahren, um simple Medikamente zu kaufen», erzählt Kosse. Viele hätten das Gefühl, dass der Staat sie aufgegeben habe. «Vielen ist es mittlerweile egal, welche Flagge auf den Verwaltungsgebäuden weht. Sie wollen eine klare Lage und ihr früheres Leben zurück.»
Auch Alexander Hug weiss um die täglichen Risiken im Konfliktgebiet. Der Schweizer ist Vize-Chef der Special Monitoring Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). 590 unbewaffnete Beobachter überwachen im Konfliktgebiet die Einhaltung des Minsker Abkommens, das eigentlich Waffenruhe garantieren soll. Hug muss seit Monaten zusehen, wie sich die Vorfälle gegen seine Beobachter häufen. Der bedächtige Schweizer hat in der Vergangenheit deutlich gemacht, dass ein Grossteil der Behinderungen und Sabotageakte von den Separatisten ausgeht.
Die Kämpfe destabilisieren die gesamte Ukraine
Doch auch auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet kommt es immer wieder zu Zwischenfällen. In der Vorwoche richtete an einem Checkpoint der ukrainischen Armee ein Mann, auf dessen Militärkleidung kein Hoheitsabzeichen zu sehen war, sein Gewehr auf einen Beobachter und bedrohte diesen. «Wir werden diese Art von Risiken nicht akzeptieren», sagte Hug bei seiner wöchentlichen Pressekonferenz. Doch die Warnungen verhallen, die minutiös aufgelisteten Verstösse bleiben ohne Folgen.
Die schon seit Monaten stagnierenden Minsker Verhandlungen sind einer der Gründe dafür, dass die Lage immer wieder eskaliert. Seit Februar 2015 sucht eine Arbeitsgruppe in regelmässigen Treffen nach möglichen Lösungen. Doch nicht einer der 13 Punkte der Vereinbarung ist bislang vollständig umgesetzt: Waffen, die längst abgezogen sein sollten, sind weiter in Verwendung. Der Austausch von Gefangenen kommt nicht in Gang. Ein Vorankommen bei haarigen politischen Punkten wie Lokalwahlen in den abtrünnigen Gebieten ist nicht zu erkennen.
Offenbar hat Moskau kein Interesse, den Konflikt zurückzufahren. Zwar tut der russische Präsident Wladimir Putin nach wie vor so, als hätte er keinen Einfluss auf die Separatisten. Doch es ist ein offenes Geheimnis, dass Russland Waffen und Personal über die Grenze in die Volksrepubliken schleust. Die Gebiete hängen mittlerweile komplett am Tropf des russischen Staates.
Keine Bereitschaft für Ruhe
Eine weiträumige Eskalation wollen zwar weder Separatisten noch die ukrainische Armee, doch auch die immer wieder aufflackernden Kämpfe sind gefährlich. Denn sie destabilisieren die gesamte Ukraine. Die Militärausgaben fressen Geld für dringende Wirtschaftsreformen, wegen der unsicheren Lage gibt es kaum Investitionen.
In der Ukraine sinkt mittlerweile die Bereitschaft für eine Umsetzung des Minsker Abkommens. Stimmen, die nach einer kompletten Abschottung der abtrünnigen Gebiete rufen, finden zunehmend Gehör. Als «beste schlechteste Lösung» nennt ein aktueller Bericht der International Crisis Group in Brüssel das Einfrieren des Konflikts durch die Kriegsparteien. Doch selbst die dafür benötigte Bereitschaft zur relativen Ruhe scheint derzeit zu fehlen.
_
Jutta Sommerbauer berichtet regelmässig aus dem Konfliktgebiet und hat vor Kurzem das Buch «Die Ukraine im Krieg. Hinter den Frontlinien eines europäischen Konflikts» veröffentlicht.