Der «Zwischenfall» in Hebron

Ein junger Soldat erschiesst einen bereits kampfunfähigen Attentäter. Doch im Verfahren gegen Elor Azaria geht es nicht nur um die Handlung eines Mannes. Falken wie Tauben sehen auch die Armee und den Besatzungsbau vor Gericht.

Israeli soldier Elor Azaria, who is charged with manslaughter by the Israeli military, sits to hear his verdict in a military court in Tel Aviv, Israel, January 4, 2017. REUTERS/Heidi Levine/Pool

(Bild: Reuters)

Ein junger Soldat erschiesst einen bereits kampfunfähigen Attentäter. Doch im Verfahren gegen Elor Azaria geht es nicht nur um die Handlung eines Mannes. Falken wie Tauben sehen auch die Armee und den Besatzungsbau vor Gericht.

Der Schuss, am 24. März 2015 um 8:29 Uhr (Ortszeit) in Hebron abgefeuert, galt einem palästinensischen Attentäter. Inzwischen hat er auch die israelische Gesellschaft getroffen. Vorläufiger Endpunkt des als «Zwischenfall von Hebron» bekannten Ereignisses: Der Sanitätssoldat Elor Azaria ist von einem Militärgericht in Jaffa wegen Totschlags (nicht wegen Mordes) grundsätzlich für schuldig gesprochen worden. Das Strafmass wird erst später festgelegt und bekannt gegeben.

Verurteilt wurde Azaria, weil er einen mehrfach angeschossenen, am Boden liegenden Palästinenser mit einem gezielten Kopfschuss getötet hatte, was eindeutig gegen die Gefechtsregeln der Armee verstösst. Der getötete Palästinenser hatte mit einem zweiten Mann zuvor eine Messerattacke gegen einen israelischen Besatzungssoldaten verübt.

Eine von der israelischen Nichtregierungsorganisation B’Tselem öffentlich gemachte Videoaufzeichnung (die blutigen Aufnahmen sind hier zu sehen) belegt dies und hat dazu geführt, dass es überhaupt und erstmals zu einem solchen Gerichtsverfahren gekommen ist. B’Tselem bezieht sich auf eine Bibelstelle in Genesis 1,27 (nach dem Ebenbild Gottes) und orientiert sich an der UN-Erklärung der Menschenrechte. Man kann sich die Aufnahme ansehen und dabei, sozusagen in Jetztzeit eine schreckliche Normalität miterleben.

Ein Sanitäter als Todesschütze

Diese Aufnahmen sind auch für die weitere Öffentlichkeit wichtig, wenn sie sich eine Meinung bilden will. Es braucht beides: Das abstrakte Nachdenken über den seit 1948 oder seit 1967 andauernden Konflikt und auch die Wahrnehmung des konkreten «Zwischenfalls». Amnesty International erinnert daran, dass es zahlreiche analoge Vorkommnisse gegeben hat, und legte eine Liste mit 20 selbst untersuchten Fällen vor – wohl die meisten ohne Videobeweise.

Es mag erstaunen, dass ein Sanitäter zum Todesschützen wurde. Azaria hatte zuvor den durch einen Messerangriff verwundeten Kameraden versorgt, ist dann aus der grösseren Schar herumstehender oder mit «Aufräumen» beschäftigter Menschen herausgetreten, ging dann auf den am Boden liegenden Attentäter zu und gab dann einen gezielten Kopfschuss ab.

Vor Gericht berief er sich aber auf das im übertragenen Sinn für ganz Israel beanspruchte Standardargument, um sein Leben gefürchtet zu haben, zumal der Palästinenser einen Sprengstoffgürtel hätte tragen können. Die Verteidigung versuchte die Tat zudem zu banalisieren, indem sie behauptete, dass der Palästinenser wahrscheinlich schon tot gewesen sei.

Begnadigung verlangt

Wie zeigt sich Israel in diesem Fall? Die Antwort hängt davon ab, was wir sehen und betonen wollen: Dass die Armee immerhin eine gravierende Verletzung des Kriegsrechts ahndet oder dass sie eine kleine Nummer zum Sündenbock machen will? Dass die Regierung die Justiz unterminiert, wenn sie Begnadigung verlangt, bevor der Prozess abgeschlossen ist?

Dass 47 Prozent von Befragten befürworten, dass Terroristen generell sogleich erschossen werden sollen? Wobei allerdings unhinterfragt blieb, was ein Terrorist ist. Dass der aus dem Amt verdrängte Verteidigungsminister Mosche Jaalon sogar davor gewarnt hat, dass «unsere Armee», wenn sie dieser Mentalität erliege, «eines Tages wie die Terrororganisation IS aussehen könnte».

Und dass es in Israel immerhin noch Kräfte gibt, die Exzesse dieser Art verurteilen und bekannt machen, wie zum Beispiel die mutige Soldatenorganisation Breaking the Silence, der vor über einem Jahr in Zürich eine Ausstellung gewidmet war, die der Schreibende hier kommentierte.

The mother (C) of Palestinian assailant Abdel Fattah al-Sharif holds his poster as another woman holds a poster of Israeli soldier Elor Azaria, who is charged with manslaughter by the Israeli military, during a protest in the West Bank city of Hebron January 4, 2017. REUTERS/Mussa Qawasma

Es gab aber auch andere Stimmen: Gideon Levy, einer der prominentesten Kommentatoren der israelischen Tageszeitung «Haaretz», verkündete, dass die Verurteilung zum Wohle Israels sei. Die Zulassung der UN-Resolution war übrigens nur eine hohle Abschiedsgeste eines abtretenden US-Präsidenten, der acht Jahre lang Gelegenheit gehabt hätte, ernsthaften Widerstand gegen die Siedlungsaktivität zu leisten.

Es ist zutreffend, dass die Welt besonders aufmerksam verfolgt, was Israel in den palästinensischen Gebieten treibt und wie es die Zweitstaaten-Lösung hintertreibt, in der die internationale Staatengemeinschaft noch immer die Lösung im Interesse beider Konfliktseiten sieht.

Honorierung von rechtswidrigem Verhalten

Israel wird in der kritischen wie in der unkritischen Variante als Sonderfall behandelt. Und das Land versteht sich auch selber als Sonderfall, der sich um gewisse Standards der internationalen Ordnung nicht kümmern muss. Trotzdem nimmt das Land gerne in ausserordentlichem Mass ausländische Hilfe an, ist sogar existenziell davon abhängig. Diese Unterstützungen in Form von Krediten, Schenkungen und Waffenlieferungen wirken sich als indirekte Unterstützung für rechtswidriges Verhalten aus. Die kritischen Stimmen sind nur das gerechtfertigte Pendant dieser Sonderstellung.

Im Moment fällt mehreres vom Gleichen zusammen: der Prozess von Jaffa, die UN-Resolution – und der «Fall Amona», die immer wieder hinausgezögerte Räumung der Siedlung auf palästinensischem Privatboden, vom Obersten Gericht seit 2014 als illegal verurteilt. Sie hätte bis spätestens 25. Dezember 2016 geräumt werden sollen. Jetzt hat sie einen neuen Aufschub von 45 Tagen erhalten sowie von der Regierung ein generöses Abfindungsangebot in Form von Geld und einem Ersatzort – wiederum im palästinensischen  Gebiet, was einer sonderbaren Honorierung von rechtswidrigem Verhalten gleichkommt.

Im «Fall Amona» sind die Dossiers noch nicht geschlossen. Und im «Fall Azaria» hat die Seite des Beklagten bereits Berufung angemeldet und wird auf palästinensischer Seite möglicherweise noch der Internationale Strafgerichtshof von Den Haag angerufen, was wegen des aufgewerteten Status der palästinensischen Autonomiegebiete möglich ist. Für Fortsetzungen ist also gesorgt und es ist keine ungebührliche Aufmerksamkeit, wenn man sie weiterhin beachtet.

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