Die erste türkische Einwanderergeneration erreicht das Rentenalter. Und – oft aufgrund harter Arbeitsbedingungen – tendenziell früher die Pflegebedürftigkeit: eine Herausforderung für Pflegeeinrichtungen, aber auch für die betroffenen Familien.
Die gelernte Pflegefachfrau und Sozialarbeiterin Elif Yildirim stiess bei der Suche nach einem Thema für ihre Abschlussarbeit an der Hochschule für Soziale Arbeit auf absolutes Neuland: «Die Migranten aus der Türkei sind relativ spät in die Schweiz gekommen und erreichen erst jetzt das Pensionsalter. In fünf bis zehn Jahren wird es einen Bedarf an speziellen Pflegeeinrichtungen geben, wie es sie zum Beispiel für Italiener oder Spanier schon lange gibt.»
Das Problem: Die Erfahrungen mit italienischen Seniorinnen oder Senioren lassen sich nicht einfach auf die türkisch/kurdische Diaspora übertragen. «Der Stereotyp vom türkischen Gastarbeiter ist völlig realitätsfern», sagt Yildirim. Im Gegensatz zu Italien oder Spanien sei die Türkei ein Vielvölkerstaat und entsprechend unterscheiden sich die einzelnen Migrantengruppen, die miteinander nicht viel zu tun haben.
«Das reicht von den verschiedenen Religionszugehörigkeiten und Volksgruppen über die politische Orientierung bis zum Bildungsstandard.» Urbane, linke und laizistische Menschen aus der Grossstadt haben mit ostanatolischen Bergbauern nicht viel gemeinsam.
Misstrauen gegenüber Institutionen
Kommt hinzu, dass normalerweise ein Drittel der Migranten im Rentenalter ins Heimatland zurückkehrt. «Das werden bei den türkischen Migranten deutlich weniger sein. Die politisch verfolgten Kurden zum Beispiel werden sich gerade jetzt vor einer Heimkehr hüten.»
Ausserdem ist bei türkischen Familien die Tradition, dass man sich um einander kümmert statt sich auf öffentliche Institutionen zu verlassen, viel stärker verwurzelt. Gerade bei der – in Basel überproportional vertretenen – kurdischen Gemeinde ist das Misstrauen gegenüber offiziellen Institutionen sehr gross: «Von offizieller Seite sind die Betroffenen nur schwer erreichbar», sagt Yildirim.
Zudem verlieren insbesondere die Männer mit der Pensionierung ihren Bezug zur Arbeitswelt und damit zum Schweizer Alltag. «Das führt, wie bei den Italienern früher häufig beobachtet, zum sogenannten ethnischen Rückzug. Die Menschen verlieren nicht nur den Kontakt zur Schweizer Bevölkerung, sondern oft auch ihre Sprachkenntnisse.» Eine regelrechte Desintegration im Alter.
Tradition des familiären Engagements
Gerade für konservativere Türken und Kurden ist es ein grosses emotionales Problem, alt und hilfsbedürftig zu werden. «Das ist sehr schambefrachtet», erklärt Yildirim. Umgekehrt ist es für die jüngeren Familien eine regelrechte Schande, die Versorgung der Alten nicht gewährleisten zu können, weil in der durchorganisierten, reglementierten und städtischen Schweiz schlicht die Möglichkeiten dazu fehlen.
Darum hat der Verein für Interkulturelle Altersfragen Via auf der Grundlage von Yildirims Bachelor-Arbeit «Alter und Migration – Ein bedarfsgerechter Lebensabend für ältere Migrantinnen und Migranten aus der Türkei» das Projekt Via-EGE lanciert. Ziel des Projekts ist es, schon jetzt per Feldforschung und im Dialog mit den vorhandenen Infrastrukturen die kommenden Bedürfnisse abzuklären, bevor man vor einem Problem steht. Zum Beispiel in Zusammenarbeit mit religiösen Gemeinden, Kulturvereinen und politischen Interessengruppen.
«Die Tradition des starken familiären Engagements ist ja keineswegs ein Defizit. Sie kann sehr viel zur Altenpflege beitragen. Gerade wenn es darum geht, die Seniorinnen und Senioren so lang wie möglich in ihrem sozialen Umfeld zu belassen», sagt Yildirim. Allerdings gilt es, die jüngeren, meist gut integrierten Generationen zu sensibilisieren und miteinzubeziehen.
«Diesmal müssen die Jungen ihren Eltern beibringen, wie es gemacht wird – zum Beispiel zwischen Pflegeangeboten und den Betroffenen vermitteln. Die älteren Türken und Kurden denken nicht voraus. Man reagiert, wenn man Probleme bekommt. Diesen Mechanismus wollen wir durchbrechen.»