Heute gegen Einbrecher. Und morgen? Gegen Fussballfans und Demonstranten vielleicht? Wie die Schweizer Armee auf Abwege gerät.
Freitag, 11. Oktober, später Nachmittag im Baselbiet. Die Militärpolizei marschiert auf und geht – gemeinsam mit der Kantonspolizei – an verschiedenen strategisch wichtigen Punkten im Leimental und im Grossraum Muttenz in Stellung.
Um 19 Uhr beginnen auf der Hauptstrasse zwischen Muttenz und Münchenstein die ersten gross angelegten «kriminalpolizeilichen Verkehrskontrollen», wie der Journalist der «Basler Zeitung» später berichten wird: Die Militär- und Kantonspolizisten winken ein Fahrzeug nach dem anderen weg von der Strasse auf einen Parkplatz. Dort werden die Nummernschilder inspiziert und die Lenker befragt. Woher kommen Sie? Wohin wollen Sie? Und der Herr neben Ihnen? Wohnen Sie zusammen? «Wir schauen darauf, ob die Gesamtsituation Sinn macht», erklärt Polizeisprecher Nico Buschauer.
Verdächtig, verdächtig
Ein Angestellter mit BL-Schild auf dem Heimweg oder eine Mutter mit Einkäufen im Kofferraum – unverdächtig.
Ein Auto mit einem ausländischen Nummernschild – schon eher interessant.
Ein Mann, der nicht plausibel erklären kann, woher er kommt oder wohin er will – definitiv verdächtig.
Präsenz markieren und Einbrecher fangen, das ist das Ziel dieser Aktion. Ein solch entschlossenes Vorgehen fordern bürgerliche Politiker und einzelne Grüne schon seit Langem, nachdem die Zahl der Einbrüche im Kanton kontinuierlich gestiegen ist – auf zuletzt fast 2000 (2012).
Werden die Richtigen verhaftet?
Wie erfolgreich die am 11. Oktober lancierte Offensive mit den insgesamt 50 Militärpolizisten ist, will bis auf Weiteres weder die Armee noch die Polizei verraten. Fragen muss man sich allerdings schon, ob die vereinten Sicherheitskräfte irgendjemanden verhaftet haben. Beziehungsweise, ob sie die Richtigen erwischt haben. Schliesslich hat nicht jeder, der sich nur vage über sein Fahrziel äussert, eine strafrechtlich relevante Freveltat vor; vielleicht freut er sich auch nur still auf ein Schäferstündchen, das seiner Ansicht nach besser geheim bleibt.
Und bei den allermeisten, die zu dieser Stunde mit einem ausländischen Nummernschild unterwegs sind, handelt es sich nicht um irgendwelche «Kriminaltouristen», sondern um Grenzgänger, auf die der Wirtschaftsraum angewiesen ist.
Die eigenen Prinzipien aufgegeben – und jene des Rechtsstaates
Solche Überlegungen hat vor ein paar Monaten auch der Baselbieter Sicherheitsdirektor Isaac Reber (Grüne) noch angestellt. Darum warnte er Anfang Jahr vor übertriebenen Erwartungen im Kampf gegen Einbrecher. «Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Freiheit dürfen nicht vergessen gehen», mahnte er damals. «Ausländer plus Schraubenzieher gleich zwei Jahre Gefängnis kann nicht die neue Gleichung sein.»
Unter dem Druck der Rechtsbürgerlichen und der Law-and-order-Fraktion in der eigenen Partei hat der grüne Sicherheitsdirektor seine Vorsicht in den vergangenen Monaten aber offenbar aufgegeben. Und damit auch seine Prinzipien, die gleichzeitig jene eines Rechtsstaates sind – oder besser gesagt: sein sollten.
Ultima Ratio
Reber setzt im Kampf gegen Einbrecher nun auf das allerletzte Mittel, das Militär, das schon am zweiten Tag seines mehrwöchigen Einsatzes im Baselbiet von der Strasse ins Tram vorgedrungen ist.
Samstagabend, 12. Oktober. Bei den Haltestellen Reinach Dorf und Neue Welt werden die Passagiere im Tram gleich wie die Autofahrer auf der Strasse einer Kontrolle unterzogen. Auch der Aescher Juso Jan Kirchmayr hat auf seiner Fahrt in den Ausgang plötzlich einen bewaffneten Soldaten vor sich. «Die Militärpolizei hat Reinach Dorf abgeriegelt und kontrolliert alle», twittert er danach samt Fotobeweis. Und, in einem weiteren Tweet: «Fühle mich wie in einem Überwachungs- und Militärstaat.»
«Endlich wird gehandelt!»
Ähnlich äussern sich in den Medien auch einige linke Kantonspolitiker und vereinzelte Grüne wie Landrat Jürg Wiedemann. «Es ist erschreckend, dass ausgerechnet ein grüner Sicherheitsdirektor zu solchen Massnahmen greift», sagt er. Zu einem Militäreinsatz gegen Demonstranten und andere Zivilisten sei es jetzt nur noch «ein kleiner Schritt».
Wenn die Kommentare in den verschiedensten Internetforen nur halbwegs repräsentativ sind, vertritt die weit überwiegende Mehrheit allerdings eine ganz andere Meinung. Endlich tut der Staat auch einmal etwas für die anständigen Bürger, lautet der Tenor in den Kommentaren. Endlich geht er auch mal auf die Kriminellen los, anstatt sie immer nur zu verhätscheln, auf Kosten von uns Steuerzahlern, notabene.
Gegen Fussballfans
Das sehen auch die Bürgerlichen so, nicht nur jene im Baselbiet. In Basel-Stadt fordert die SVP, dass das Militär die Einbrecherjagd möglichst bald auch auf die Stadt ausdehnt, während man sich am anderen Ende des Landes offenbar schon auf den nächsten Schritt freut, vor dem sich Wiedemann so fürchtet. Oskar Freysinger, der SVP-Nationalrat und neue Walliser Sicherheitsdirektor, kritisiert die vielen «oft ungenutzten Synergien» im Bereich der Sicherheit – und fordert in einer Motion, dass die «Durchlässigkeit» zwischen Militärpolizei, Grenzwachtkorps und Polizei verstärkt wird. Wie er sich das konkret vorstellt, verriet er gegenüber der «Basler Zeitung»: Neben den Patrouillen gegen Einbrecher sei vieles vorstellbar, gemeinsame Aktionen «im Rahmen von Fussballspielen» zum Beispiel.
Die Verfassung – mehr als klar
Das Militär – heute gegen Kriminelle. Und morgen – gegen Fussballrowdies und -fans? Und warum nicht gleich auch noch gegen Demonstranten?
Dagegen spricht ein Argument, das eigentlich stärker sein sollte als die laut Verteidigungsminister Ueli Maurer «beste Armee der Welt» samt Polizei und Grenzwache – die Verfassung. «Die Armee dient der Kriegsverhinderung und trägt bei zur Erhaltung des Friedens; sie verteidigt das Land und seine Bevölkerung. Sie unterstützt die zivilen Behörden bei der Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit und bei der Bewältigung anderer ausserordentlicher Lagen», heisst es in Artikel 58. Selbst in einer solchen Situation müsste sich ein Kanton gemäss Verfassung und der Vereinbarung über die kantonalen Polizeieinsätze erst einmal innerhalb des jeweiligen Konkordates um Unterstützung bemühen. Nur wenn auch die anderen Kantone nicht mehr in der Lage sind, Hilfe zu leisten, kann die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren beim Bund eine Unterstützung durch die Armee beantragen. Die Kosten für den Einsatz müssten gemäss der schweizerischen Ikapol-Verordnung vom hilfsbedürftigen Kanton übernommen werden.
Das Baselbiet – schwerwiegend bedroht?
Beim Armee-Einsatz im Baselbiet ist keine einzige dieser Bedingungen erfüllt. Die innere Sicherheit ist – trotz einer Häufung von Einbrüchen – keineswegs «schwerwiegend bedroht»; es gab darum auch nie ein Hilfegesuch an andere Kantone oder den Bund. Es waren, im Gegenteil, Bund und Armee, die ihre Hilfe anboten, ohne eine Rechnung in Aussicht zu stellen. Da sagte die Baselbieter Regierung dankbar zu.
Anscheinend haben sich auch tatsächlich die beiden Richtigen gefunden: der Kanton Baselland mit seinen chronischen Geldsorgen und die Armee mit ihrer ewigen Sinnkrise. Nun erhalten die darbenden Baselbieter Gratis-Sicherheitskräfte, und die zweifelnde Armee bekommt eine scheinbar sinnvolle Aufgabe. Entsprechend freudig wurde die gemeinsame «Offensive gegen Einbrüche» kurz vor ihrem Start angekündigt. Im Baselbiet würden nun ganz «neue Wege» beschritten, um Einbrecher zu stoppen und die «zivil-militärische Zusammenarbeit zu trainieren», heisst es in der Mitteilung.
Nichts für eine Übung
«Die Militärpolizei auf Abwegen» hätte man auch schreiben und danach feststellen können, dass die Gesetzeshüter im Baselbiet nun offensichtlich selbst ein Problem mit der Verfassung haben. Zu diesem Schluss kommen jedenfalls keineswegs nur die üblichen verdächtigen Linken, sondern auch ein liberaler Sicherheitsexperte wie der ehemalige Basler Polizeikommandant Markus Mohler. «Für diesen Einsatz fehlt eine Grundlage in der Bundesverfassung», sagte er der «Schweiz am Sonntag».
Seither üben sich die Baselbieter Sicherheitsdirektion und die Armee in Schadensbegrenzung, indem sie die gemeinsame «Offensive» als simple «Übung» und «Ausbildungs-Zusammenarbeit» darstellen, die nach drei Wochen auch schon wieder vorbei sei und möglicherweise nicht einmal wiederholt werde. Mohler hält das für eine Ausrede. «Eine Personenkontrolle ist ebenfalls eine, wenn auch leichte Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit», sagt er. «An der Bevölkerung und den Grundrechten kann man keine ‹Übung› praktizieren.»
Das Baselbiet ist erst der Anfang
Dennoch hat der Bundesrat genau das vor. «Weiterentwicklung der Armee», heisst sein Projekt, mit der gemeinsame Aktionen wie jene im Baselbiet im ganzen Land zum System werden sollen. Die Idee dahinter: Ein Krieg scheint in der Schweiz auf absehbare Zeit fast ausgeschlossen, dafür drohen andere Gefahren – Terror, Cyberangriffe, Naturkatastrophen, Pandemien oder «verstärkte Migrationsströme», wie der Bund es nennt. Darauf soll sich die Armee vorbereiten: in einer möglichst engen Zusammenarbeit mit den kantonalen Sicherheitskräften, die im Ernstfall als Erste gefordert wären.
Eine logische Überlegung. Das Problem ist aber, dass sich die Armee für fast alles einsetzen lässt, wie sie in den vergangenen Jahren teilweise schon vorexerziert hat: Verkehr regeln, ausländische Vertretungen bewachen, Tribünen bei Tattoos und Schwing- und Jodelfesten auf- und wieder abbauen, Verbrecher jagen, die Polizei bei Razzien in Gefängnissen unterstützen (alles schon gehabt), Fussballfans kontrollieren (Vorschlag Freysinger), Demonstranten überwachen (Wiedemanns Angst) oder auch einen «Ansturm von Flüchtlingen» abwehren (wie im Sicherheitsbericht des Bundesrates von 2010 skizziert). Schier unbegrenzt sind die Möglichkeiten.
Militärverbände schlagen Alarm
Entsprechend gross sind auch die Vorbehalte gegen dem Armee-Umbau. Die schärfste Kritik wird dabei nicht einmal von jenen Kräften geäussert, die ohnehin gegen alles sind, was irgendwie mit Waffen und Uniformen zu tun hat, sondern von den grössten Armeefreunden. Den Männern von Pro Militia, der Gruppe Giardino wider die Zerstörung der Milizarmee und der Schweizer Wehrkultur und der Gesellschaft der Generalstabsoffiziere. Sie befürchten, dass ihre Soldaten mehr und mehr als billige Arbeitskräfte missbraucht werden, als «Handlanger» und «Hilfssheriffs». Und dass die Armee mit der Landesverteidigung als Hauptaufgabe auch ihre Legitimation verliert, ihre Existenzberechtigung.
Darum lehnen die Verbände die Vorlage zur Weiterentwicklung der Armee ab, wie sie in der Vernehmlassung deutlich machen, die in diesen Tagen abgeschlossen wurde. Fortgeführt wird der Streit nun im Parlament – und allenfalls auch im Abstimmungskampf. Die Gruppe Giardino droht jedenfalls schon mal mit einem Referendum gegen den Armee-Umbau, der bezeichnenderweise auch einen Ausbau der Militärpolizei-Bataillone von zwei auf vier mit sich bringen soll.
«Fundamentaler Widerspruch zur Bundesverfassung»
Es wird wohl eine interessante Debatte geben, nur schon juristisch. Die Armeeverbände bezeichnen den Umbau als verfassungswidrig – und mit Markus Mohler haben sie einen gewichtigen Fürsprecher. Der Einsatz von Teilen der Armee und die Übernahme von polizeilichen Aufgaben sei schon jetzt nicht verfassungskonform, stellt er stellt er in einem Aufsatz fest, der kürzlich in der Fachzeitschrift «Sicherheit und Recht» erschienen ist (auf der Rückseite dieses Artikels zu finden): «Die nun vorgeschlagenen Änderungen (…) widersprechen der Kompetenzordnung der Bundesverfassung fundamental.»
In Maurers Verteidigungsdepartement wird man solche Aussagen nicht gerne hören. Falls die Weiterentwicklung der Armee scheitert, ist wohl auch fertig mit diesem Rumgebastel am Militär, diesem bisschen Sparen und diesen rechtlich fragwürdigen Komptenzverschiebungen.
Angst vor den heiklen Fragen
Dann müsste sich die Schweiz mit den entscheidenden Fragen auseinandersetzen. Wie kann man sich gegen die aktuellen Gefahren wie Terror verteidigen? Bräuchte es dafür nicht allenfalls neue Allianzen? Und ist unsere Armee nicht vielleicht einfach viel zu gross, während Polizei und Grenzwache zu wenige Leute haben?
Heikle Fragen, gerade für die Schweiz, die gerne eigenständig sein will und Mühe mit grossen Reformen hat. Noch muss man sie aber nicht beantworten, solange die Soldaten einfach irgendwie beschäftigt sind.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 18.10.13