Die Atomkraft-Anhänger von Tschernobyl

Die überzeugtesten Anhänger der Atomkraft findet man ausgerechnet in Tschernobyl. Denn das radioaktive Erbe ist die Grundlage ihrer Zukunft.

Dimitri Stelmach, Leiter der Abteilung "strategische Planung" im Atomkraftwerk von Tschernobyl. In Tschernobyl ereignete sich die größte technologische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Ausgerechnet dort findet man heute noch die größten Anhänger der Atomkraft. / The Chernobyl catastrophe was the biggest technological catastrophe of the 20th century. It seems strange that just there you can find the biggest supporters of nuclear energy. (Bild: Florian Bachmeier, n-ost)

Die überzeugtesten Anhänger der Atomkraft findet man ausgerechnet in Tschernobyl. Warum? Sie haben Grosses vor.

Die Landschaft, die vor dem Zugfenster vorbeiflirrt, wirkt unwirklich, wie ein Filmset. Wie schwerelos säumen Telegrafenmasten die Gleise, auf halbem Wege umgestürzt, wie im Sturz erstarrt. Baumstümpfe ragen aus zugefrorenen Sümpfen wie Stummel. Ein grosses Rätsel liegt über der Landschaft, der Zone um Tschernobyl.

40 Minuten sind es mit dem Zug von der Stadt Slawutytsch nach Tschernobyl. Dmitri Stelmach hat kein einziges Mal aus dem Fenster gesehen. Er kennt das alles schon seit seiner Kindheit. Als der vierte Block im Atomkraftwerk Tschernobyl explodierte, war er sieben Jahre alt. Heute ist er Leiter der Abteilung für strategische Planung im Atomkraftwerk von Tschernobyl – denn das Unternehmen gibt es immer noch.

Wenn Stelmach davon spricht, dass die «Zone» für Jahrhunderte verseucht bleiben wird, dann klingt das nicht wie eine Klage, sondern wie ein Businessplan. «Viele Menschen wollen nicht, dass neben ihrem Haus Atommüll gelagert wird», sagt er. «Das Know-how, das wir uns dabei angeeignet haben, ist aber einzigartig.» Warum also nicht eine Art nukleares Laboratorium aufbauen, ein Depot für den globalen Atommüll? Stelmach ist kein Spinner, spricht ruhig und gewissenhaft. Er versucht nur, die Dinge rational zu sehen.

Stelmach wohnt in Slawutytsch, nach dem Katastrophenjahr 1986 wenige Kilometer von der «Zone» entfernt aufgebaut, als Ersatz für die radioaktiv verseuchte Geisterstadt Pripjat. Slawutytsch sollte eine «sowjetische Stadt für das 21. Jahrhundert» werden, von Bauleitern und Arbeitern aus acht Sowjetrepubliken erbaut. Inzwischen ist die Sowjetunion Geschichte, und Slawutytsch halb verwaist. Als die letzten Blöcke des Atomkraftwerks im Jahr 2000 abgeschaltet wurden, haben auf einen Schlag 9000 Menschen ihren Job verloren. Heute fahren noch Tausende Arbeiter jeden Tag von Slawutytsch in die «stanzija», das Werk, um die Folgen des Unfalls zu beseitigen. Damit Slawutytsch überleben kann, brauchen die Menschen Arbeit. Und eine Perspektive.

Lieber ein nukleares Silicon Valley als ein ukrainisches Detroit – so wie Stelmach denken hier viele. «Wenn Pripjat die Niederlage ist, dann ist Slawutytsch die Wiederauferstehung!», sagt Bürgermeister Wladimir Udowitschenko. «Unsere Dienste wird man so lange brauchen, wie es die Atomkraft gibt.» Und die erlebt nach Tschernobyl und Fukushima gerade wieder eine Renaissance: Mehr als 60 neue Reaktoren sind derzeit weltweit im Bau – Energiewende hin oder her.

Um den Abbau des Atommülls von Tschernobyl ist eine regelrechte Industrie entstanden – die «Decommissioning Infrastructure», der «Shelter Implementation Plan». Fabriken werden gebaut, um die radioaktiven Reste umzuarbeiten, die dann in einem Depot versenkt werden, einer Art Endlager für den nuklearen Abfall. Wer mit Atommüll arbeitet, rechnet nicht in Jahren – sondern in Jahrzehnten. Bis 2064 soll die Abbauphase fertig sein. Derzeit wird neben dem havarierten Block 4 ein gigantisches Halbrund aus 18’000 Tonnen Stahl gebaut – «Nowarka», die «neue Arche». Denn der «Sarkophag», die Ummantelung des havarierten Blocks, der in den ersten Monaten nach dem Unglück gebaut wurde, ist undicht. Im Inneren des Blocks ist der Zustand von 1986 erhalten – in heisser Form.

In zwei Jahren, wenn die «Arche» fertig ist, wird sie auf Schienen über den Block gerollt, um das Innere für 100 Jahre von der Atmosphäre abzuschotten. Für das 1,5-Milliarden-Euro-Projekt wurde extra ein französisches Unternehmen gegründet. Für Slawutytsch ist die «Arche» Fluch und Segen zugleich: Die französischen Ingenieure haben wieder Stolz und Wohlstand in die Stadt gebracht. In Slawutytsch ist man an ausländische Gäste gewohnt, neue Hotels, teure Restaurants haben geöffnet. Wenn die «Arche» fertig ist, werden wieder 1000 Leute ihren Job verlieren. Und wieder werden Menschen wegziehen.

In Slawutytsch ist das Gedenken an Tschernobyl allgegenwärtig. Neuvermählte legen am Denkmal für die Tschernobyl-Opfer Blumen nieder, bevor sie sich am Stein des «Weissen Engels» ewige Liebe schwören. Vor der Bahnhofshalle hängt keine Uhr, sondern ein Strahlenmesser. Das Gedenken ist aber auch pragmatisch. Wenn wieder ein schwerbehindertes Kind auf die Welt kommt oder jemand an Krebs stirbt, heisst es: Hätte es das denn nicht auch ohne Tschernobyl gegeben? Beweisen lässt sich das nicht – aber eben auch nicht das Gegenteil.

Über die gesundheitlichen Auswirkungen von Tschernobyl herrscht bis heute keine Einigkeit. Das sogenannte Tschernobyl-Forum listet nur 50 Opfer auf, die direkt durch die Strahlung gestorben sind – und weitere 4000 Opfer durch andere Spätfolgen, wie Krebserkrankungen. Greenpeace rechnet hingegen in seinem «Tschernobyl-Gesundheitsreport» mit 93’000 Toten. Es gibt aber noch stumme Zeugen, draussen vor der Stadtgrenze. Kaum jemand, der hier auf dem Friedhof von Slawutytsch begraben liegt, wurde älter als 50 Jahre. Immer wieder ist die Silhouette des Reaktorblocks auf den Grabsteinen eingraviert. Es ist nicht als Klage gemeint, sondern als letzte, liebevolle Huldigung an die «Stanzija», das «Werk».

Auch Jewgeni Jaschin wird wohl einst zu jenen gehören, die dem Werk huldigen. Jaschin ist ein «Liquidator» – einer jener Arbeiter, die nach dem Unfall im Werk Dienst taten. Er watete kniehoch in verseuchtem Wasser, um das Löschwasser abzupumpen. Hätte sich das Wasser mit dem Reaktorkern verbunden, hätte es eine weitere, noch grössere Explosion gegeben, die vielleicht halb Europa unbewohnbar gemacht hätte. Danach musste Jaschin monatelang in einer Moskauer Klinik behandelt werden.

Sein Glaube an die Atomkraft ist dennoch ungebrochen. «Man hat aus den Fehlern von damals gelernt», sagt er, sein hagerer Körper in eine Gala-Uniform gehüllt, mit Abzeichen übersät. Auch er hofft, dass die Region dereinst wieder mit nuklearer Technik aufblüht – oder irgendwann sogar die Atomkraft wieder nach Tschernobyl zurückkehren kann. «Das wäre wichtig für die Entwicklung der Stadt, der Region», sagt er. Immerhin hat er schon einmal seine Heimat verloren – Prypjat, die stolze Stadt des Tschernobyl-Kollektivs. Und das möchte er kein zweites Mal.

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Empfehlen können wir zum Thema auch die Drohnenvideos vom britischen Filmemacher Danny Cooke. Er blickte von oben auf Tschernobyl und Prypjat.

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