Die böse Saat ist aufgegangen

Frankreich, Land der Revolution, Land von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – und jetzt das Land der Fremdenfeindlichen? Tatsache ist: Jeder vierte Wähler hat am letzten Sonntag seine Stimme dem Front National gegeben.

Quelle joie: Marine Le Pen musste nur noch den Rocksaum heben, um Stimmen von enttäuschten Wählern der etablierten Parteien zu ernten. (Bild: CHRISTIAN HARTMANN)

Frankreich, Land der Revolution, Land von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – und jetzt das Land der Fremdenfeindlichen? Tatsache ist: Jeder vierte Wähler hat am letzten Sonntag seine Stimme dem Front National gegeben.

Wer nach ein paar Jahren in der Wüste nach Paris zurückkehren würde, hätte wohl den Eindruck, als habe hier inzwischen eine tektonische Verschiebung stattgefunden. Politisch gesprochen, steht Frankreich Kopf. Erstmals hat die 1972 gegründete Rechtspartei Front National (FN) landesweit eine Wahl gewonnen. Mit Abstand. In der soliden Grande Nation sind die stolzen Grossparteien der Gaullisten und der Sozialisten, die seit der Bildung der Fünften Republik 1958 das politische Geschehen abwechselnd bestimmt haben, bei den Europawahlen von Sonntag auf 20 und 14 Prozent abgesackt; die gänzlich unrepublikanische Formation von Jean-Marie Le Pen ist dagegen mit 25 Prozent Stimmen zur stärksten Partei im Land aufgestiegen. Der Vorsitzenden Marine Le Pen werden plötzlich Chancen eingeräumt, 2017 Staatspräsidentin zu werden. Vor wenigen Jahren, als unser Besucher zu seinem Wüstentripp startete, wäre das noch völlig undenkbar gewesen.

Diesmal war es mehr als eine Protestwahl

Am Sonntagabend gelobte die 46-jährige Tochter des FN-Gründers, sie werde weiter für die «Grandeur» der Nation kämpfen – und verschwand dann zur Parteifeier in der «Elysée Lounge». Diesen Nachtklub hatte sie, wie sie lachend sagte, mit Bedacht gewählt: Er liegt unweit des Elysée-Palastes, dort, wo Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen 2017 einziehen will. Erhielte sie dannzumal auch 25 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang, wären ihre Aussichten gut.

Beim Europawahlgang wählte ortsweise nicht nur jeder Vierte, sondern gar jeder Dritte FN. In Nordfrankreich erzielte die fremdenfeindliche Partei 34 Prozent, im Departement Haut-Rhin bei Basel 30 Prozent. Europawahlen folgen zwar eigenen Regeln: Sie werden meist dazu benützt, die gerade aktuelle Regierung in Paris abzustrafen. Doch jetzt haben mehr als ein paar wankelmütige Protestwähler, die es den anderen zeigen wollen, für die Rechtsaussen-Partei gestimmt.

Fremdenfeindlichkeit wächst

Neu ist auch, dass die FN-Wähler zu ihrem Votum stehen. Wenn die Kameraleute des Regionalsenders France 3 früher in FN-Bastionen reisten, stiessen sie auf eine Mauer des Schweigens. Jetzt outen sich Kleingewerbler und Bauern, Rentnerinnen und Hausfrauen sehr offen: Ja, sie seien für Marine Le Pen, denn sie seien gegen Europa; nein, sie seien keine Rassisten, aber Ausländer habe es in Paris trotzdem zu viele.

Die tektonische Verschiebung zeigt sich auch im Selbstverständnis der Franzosen. Früher unterschieden sie glasklar zwischen «republikanischen» Parteien und den «Rechtsextremen». Letztere ignorierten und übergingen sie schlicht. Der FN wurde ausgeblendet. Ein wenig so, wie General de Gaulle das Vichy-Regime des Zweiten Weltkrieges als «Klammer» der glorreichen Geschichte Frankreichs bezeichnete – und damit flugs daraus entfernte.

Die Franzosen sind stark darin, Unliebsames einfach wegzuzappen.

Die Franzosen sind stark darin, Unliebsames einfach wegzuzappen. So steht der hohe Anspruch der Menschenrechtsnation klar über dem profanen Wählerverhalten des einzelnen Citoyens; ihre «exception culturelle», Haute Couture und das Savoir-vivre thronen unbeeinträchtigt über der verdrängten Banlieue-Gewalt, den vergessenen Obdachlosen, Armen und Analphabeten im Land. Am Wahlabend erklärte ein Elysée-Berater: «Das Wahlresultat entspricht nicht der Rolle Frankreichs, seinem Image, seiner Ambition.»

Jahrelang hatte Frankreich weggeschaut, während der Front National im Land seine Saat ausbrachte. Jetzt ist sie aufgegangen. Und jetzt fällt die unsichtbare Trennwand zwischen den Rechten und der Republik. Die stärkste Partei lässt sich nicht mehr einfach übergehen. Ein Bewusstseinsschock geht durch das Land. «Frankreich ist Europameister der extremen Rechten», titelte das linke Onlineportal Rue89. Jemand hat ausgerechnet, dass die Frontisten in der Nationalversammlung mit 25 Stimmenprozent auf 144 Abgeordnete kämen. Quelle horreur!

Fatale Demokratiedefizite

Heute haben die Frontisten wegen des Mehrheitswahlrechtes nur zwei Abgeordnete. Doch die Fiktion einer politischen Landschaft ohne FN lässt sich nicht länger aufrechterhalten. Damit müssen die Franzosen aber auch die tieferen Gründe für den FN-Erfolg analysieren und benennen: Arbeitslosigkeit und Fremdenängste, dazu das Demokratiedefizit des Pariser Zentralstaates und des EU-Apparates. Viele Politiker scheuen diese Ursachensuche, weil diese ihre eigenen Defizite blosszulegen droht.

Etwa diejenigen von Präsident François Hollande, der seit seiner Wahl 2012 verspricht, er werde die Arbeitslosigkeit drücken, während sie immer höhere Rekordwerte erklimmt. Nach zwei Jahren mit massiven Steuererhöhnungen verspricht er in seiner Verzweiflung nun das Gegenteil, nämlich die Senkung der Abgabenlast zumindest für einkommensschwache Franzosen.

Betroffen ist aber auch die bürgerliche UMP: Deren Vorsteher Jean-François Copé musste am Mittwoch den Hut nehmen, weil er sich immer mehr in interne Rivalitäten und Veruntreuungsaffären verheddert hatte, statt eine konstruktive Oppositionspolitik zu betreiben. Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, der sich den Franzosen gerade als «homme de providence» (Mann der Vorsehung) für die Präsidentschaftswahlen 2017 verkaufen wollte, soll laut neusten Enthüllungen Wahlkampfrechnungen getürkt haben, indem er sie seiner UMP anhängte.

Le Pen profitiert von der Schwäche der anderen

Das hilft natürlich Marine Le Pen. Sie muss nur noch den Rocksaum aufhalten, um die Stimmen enttäuschter Wähler der Union pour un Mouvement Populaire (UMP) und des Parti Socialiste (PS) zu ernten. Im Wahlkampf bekannte sie erstaunlich freimütig: «Wenn UMP und PS gut wären, gäbe es den Front National nicht.»

Wären UMP und PS stark genug, um auch nur an ihre Ideen zu glauben, würden sie auch nicht zulassen, dass die Lepenisten sie nach Belieben vor sich herjagen. Statt Frankreich von innen her zu modernisieren und für den globalen Wettbewerb wieder fitzumachen, schiessen sich Hollande und sein Premierminister Manuel Valls wie Le Pen auf die EU ein.

Diese Woche verlangte der Staatschef von Brüssel einen Kurswechsel: Die EU müsse «neu ausgerichtet» werden. Valls verlangt, dass die Euro-Finanzminister inskünftig bei der Europäischen Zentralbank darauf einwirken können, dass der – für die französische Wirtschaft als zu hoch erachtete – Kurs des Euro sinkt. Auch das fordert Le Pen seit Langem.

Taub für französische Anliegen

Berlin würde dazu aber nie Hand bieten. Auch andere EU- oder Euroländer unterstützen die Forderungen aus Paris kaum. So wächst dort das Gefühl, dass die EU für die französischen Anliegen taub sei. Nutzniesserin der wachsenden antieuropäischen Stimmung ist aber nicht etwa Hollande, der in den Umfragen immer tiefer absackt – momentan liegt er noch bei 18 Prozent bei den Sympathiewerten –, sondern einzig Marine Le Pen. So profitiert sie fleissig vom Hang französischer Politiker, die EU zum Sündenbock eigener – französischer – Schwächen zu machen.

Innenpolitisch unter massivem Erwartungsdruck stehend, dürften Hollande und Valls in den kommenden Wochen weiter versucht sein, auf Konfrontationskurs zu Brüssel zu gehen. Langsam breitet sich der ungute Einfluss der Frontisten über die Landesgrenzen bis nach Brüssel und ins Europaparlament nach Strassburg aus.

Das wirtschaftspolitische Programm Le Pens beruht auf der Forderung, aus dem Euro auszutreten.

Alles ist nicht schwarz oder dunkelbraun. Vielleicht hat der FN-Erfolg auch sein Gutes: Jetzt, wo die etablierten Politiker den FN-Vormarsch nicht mehr ignorieren und leugnen können, müssen sie sich auf die eigenen Werte und Überzeugungen besinnen. Und vielleicht merken sie dann, dass die Frontisten eigentlich gar keine Argumente oder Alternativen anzubieten haben.

Das wirtschaftspolitische Programm Le Pens beruht auf der Forderung, aus dem Euro auszutreten; den neu eingeführten Franc würde sie gleich um 20 Prozent abwerten. Das würde Frankreich in die Isolation, Inflation und Rezession treiben und das Arbeitslosenheer nach Experten um eine Million vergrössern.

Darunter litte auch die Grandeur Frankreichs, die Marine Le Pen so gerne bemüht: Ohne EU- und Eurozone würde ihr Land unweigerlich an Bedeutung verlieren. Le Pen ist deshalb eine schlechte Patriotin. Bloss weiss das in Frankreich kaum jemand.

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