Die Elsässer Zeitbombe tickt weiter

44’000 Tonnen gefährlicher Sondermüll lagert in einer alten Kalimine im elsässischen Wittelsheim bei Mulhouse. Die ehemalige Untertagdeponie bedroht das Grundwasser der ganzen Oberrheinischen Tiefebene. Die rot-grüne Regierung Hollande will trotzdem keine Totalsanierung.

Die Untertage-Deponie soll bis 2019 teilsaniert werden.

44’000 Tonnen gefährlicher Sondermüll lagert in einer alten Kalimine im elsässischen Wittelsheim bei Mulhouse. Die ehemalige Untertagdeponie bedroht das Grundwasser der ganzen Oberrheinischen Tiefebene. Die rot-grüne Regierung Hollande will trotzdem keine Totalsanierung.

Von Februar 1999 bis zum 10. September 2002 betrieb die Firma Stocamine in Wittelsheim eine Sondermülldeponie. 500 Meter unter der Erde lagerte sie in einem Schacht der ehemaligen Kalimine mit dem schönen Namen Amélie mit offizieller staatlicher Erlaubnis mehr oder weniger giftige Industrieabfälle ein. Schon im September 2002 setzte ein Brand im Lager tief unter der Erde dem heiklen Betrieb aber ein Ende: Es dauerte damals mehrere Monate, bis der Schwelbrand endgültig unter Kontrolle war. Dass im Sondermüll-Lager Feuer ausbrechen könnte, hatten die Firma und die Behörden zuvor für unmöglich gehalten.

Im April 2009 wurden der Direktor und sein Unternehmen für schuldig erklärt, Abfälle angenommen zu haben, die sie nicht hätten annehmen dürfen. 74 Mineure, die während der Löscharbeiten giftigen Dämpfen ausgesetzt waren, erhielten eine Entschädigung. Die Mine blieb bis heute geschlossen. Der eingelagerte Sondermüll, zum Teil in Säcken, zum Teil in Fässer verpackt, modert seither von einer Restmannschaft mehr schlecht als recht überwacht vor sich hin. Der Brand und die Löscharbeiten haben die zuvor schon wenig geordnete Deponie zusätzlich instabil und undicht gemacht.  

Jahrelanges Nichtstun

Acht Jahre dauerte es, bis die französische Regierung im Juni 2010 den Beginn der Arbeiten zur definitiven Schliessung der Deponie ankündigte. Im Elsass hatte sich längst eine besorgte Bürgeraktion gegründet, das Collectif Destocamine, die politischen Druck machte und die rasche Totalsanierung der giftigen Zeitbombe im Boden der Rheinebene forderte. Behörden und die noch immer zuständige Firma Stocamine beriefen jetzt ein Expertenkomitee. Dieses kam im Juli 2011 zum Schluss, dass zumindest der giftigste Teil des Sondermülls gehoben und anderswo sicher entsorgt werden müsse.

Doch vorwärts ging immer noch nichts: Zwei Umweltminister der Regierung Sarkozy liessen das Dossier und den Giftmüll im Boden weiter vor sich hin modern. Die politischen Behörden und die Firma spielten auf Zeit, sagen Umweltschützer. Die einst versprochene Option der Rückholbarkeit der Abfälle werde von Tag zu Tag schwieriger.

Kostenfrage wohl entscheidend

Diese Woche nun hat die Umweltministerin der rot-grünen Regierung Hollande, Delphine Batho, bekannt gegeben, dass der toxische Abfall nur zu einem kleinen Teil wieder ausgehoben werden soll. Die Sozialistin, die auch für das Dossier Fessenheim zuständig ist,. hat der Firma Stocamine offiziell mitgeteilt, sie solle ein Sanierungsprojekt ausarbeiten, bei dem nur die gefährlichsten quecksilber- und arsenhaltigen Abfälle aus dem Lager geholt werden. Von den insgesamt rund 44’000 Tonnen in der Deponie wären das höchstens 5000 Tonnen. Der Rest soll in den alten Minengängen bleiben und darin eingemauert werden.

Die Regierung bestreitet, dass sie ihren Entscheid aus Kostengründen getroffen hat: Die kleine Sanierung dürfte geschätzte 50 Millionen Euro kosten, die Totalsanierung 150 Millionen. «Der Entscheid der Regierung ist in einem Umfeld angespannter Budgetverhältnisse gefallen», räumte der offizielle Vertreter der Zentralregierung vor Ort, der Präfekt Alain Perret, immerhin ein. Den tatsächlichen Beginn von Sanierungsarbeiten schätzt er im besten Fall auf Ende 2013 ein, die endgültige Schliessung der Deponie auf 2019.  

«Der Kampf geht weiter»

Nicht nur die Umweltschützer halten die Pläne der Regierung für absolut ungenügend. Auch praktisch alle elsässischen Politiker inklusive der bürgerlichen Exponenten zeigen sich enttäuscht über den Regierungsentscheid. Selbst der Conseil Général du Haut Rhin, das bürgerlich dominierte, oberste politische Organ des Departements, verlangt seit langem die Totalsanierung. «Steigen Sie selber in die Mine herunter, Frau Ministerin, und machen sie sich ein Bild der Situation», forderte die grüne Regionalabgeordnete Djamila Sonzogni Delphine Batho auf. «Sie sehen dann, wie schwierig es sein wird, die gefährlichen Abfälle von den weniger gefährlichen zu trennen. Nur eine Hebung aller Abfälle verhindert, dass das grösste Grundwasserreservoir Westeuropas in Gefahr gerät».

Auch das Collectif Destocamine beharrt auf der Totalsanierung. «Der Kampf geht weiter», verspricht Yann Flory, Sprecher der Bürgerbewegung. Die Umweltschützer werden als nächstes Anfang Jahr an die europäische Kommission gelangen, denn ihrer Meinung nach verstösst das jetzt vorgeschlagene Teilsanierungsprojekt den EU-Vorschriften.

Schweizer Experten warnen

Für eine Totalsanierung als einzige wirklich nachhaltige Lösung für den Standort Stocamine hat sich im übrigen auch das von den französischen Behörden im Rahmen des offiziellen Expertenberichts beigezogene Schweizer Expertenduo Marcos Buser und Walter Wildi ausgesprochen. Sie wiesen auf die positiven Erfahrungen der zwei totalsanierten Untertagdeponien im deutschen Herfa-Neurode und im jurassischen St. Ursanne hin. Aus dem  ehemaligen Kalkbergwerk bei St. Ursanne liess der Kanton Jura weitgehend nach den Plänen von Buser und Wildi mit Stocamine vergleichbaren Sondermüll erfolgreich heben und entsorgen.

«Das Szenario einer endgültigen Schliessung von Stocamine ohne vorgängige Bergung der Abfälle erscheint wenig glaubwürdig, wenn man die Sanierungen alter Sondermülldeponien in der Schweiz (Kölliken und Bonfol) oder anderswo (z.B. Herfa-Neurode) bedenkt», heisst es im – nicht berücksichtigten – Bericht der Schweizer. «Sollte die Bergung der Abfälle aus Stocamine aufgegeben werden – entgegen den ursprünglichen Versprechen der Machbarkeit einer solchen Option -, könnte dies auch gravierende Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit konkreter Tiefenlagerprojekte für radioaktive Abfälle in Frankreich und anderswo haben», so Buser und Wildi.

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