Der ETH-Professor und Unternehmer Anton Gunzinger fordert eine rasche und radikale Umsetzung der Energiewende. Bei einer konsequenten Umstellung auf erneuerbare Energien könnten bis 2050 über 700 Milliarden Franken eingespart werden.
Werden alle zur Verfügung stehenden Technologien, Energiequellen und Sparmöglichkeiten genutzt, sinkt der Energieverbrauch von heute rund 300 Terawattstunden/Jahr bis 2035 auf 100 Terawattstunden/Jahr. Anstelle von AKW und Gaskraftwerken liefern vermehrt Windräder und Solarzellen Strom (vgl. Grafik im grossen Schaubild).
Kann sich die Schweiz weitgehend mit erneuerbaren Energien versorgen? Ist das technisch lösbar und auch volkswirtschaftlich tragbar?
Anton Gunzinger sagt zu all diesen Fragen dezidiert Ja. In der Schweiz sei es nicht nur möglich, auf Kernkraftwerke und fossile Energieträger wie Erdöl, Benzin und Erdgas zu verzichten, sagt der ETH-Professor und IT-Unternehmer, das Unterfangen sei sogar lukrativ. Nicht zuletzt, weil Technologien zur Anwendung kämen, die bereits existieren.
In seinem neuen Buch «Kraftwerk Schweiz» zeichnet Gunzinger nicht nur die Herausforderungen und technischen Möglichkeiten der Energiewende nach: In verschiedenen Modellrechnungen zeigt er minutiös auf, wie die Energiewende konkret angepackt werden könnte.
Neben der Wasserkraft hat die Solarenergie in der Schweiz ein beträchtliches Potenzial zur Stromerzeugung. Diese Fotovoltaik-Anlagen sind in den letzten Jahren kontinuierlich billiger geworden. Schon in wenigen Jahren werden sie günstiger Strom produzieren als Kernkraftwerke, ist Gunzinger überzeugt.
Ausserdem seien die Berechnungen für die Kosten zur Endlagerung radioaktiver Abfälle sowie für die Stilllegung der Atomkraftwerke bisher viel zu tief veranschlagt worden. «Diese Kosten müssen transparent ausgewiesen und in den Strompreis eingerechnet werden», sagt Gunzinger.
Keine falschen Anreize setzen
Weil eine Solaranlage nach der Amortisierung der Investitionskosten praktisch gratis Strom produziert – die Sonne stellt schliesslich keine Rechnung –, spricht sich Gunzinger gegen das bisher angewendete Prinzip der kostendeckenden Einspeisevergütung aus. Ein garantierter Abnahmepreis sei ebenso unsinnig wie das Recht, die gesamte solare Stromproduktion ins Netz einzuspeisen, auch bei einer allfälligen Überproduktion.
Besser seien Investitionshilfen als Anreize zum Bau von Solaranlagen. Es gibt in der Schweiz genügend Dachflächen, Lärmschutzwände oder Lawinenverbauungen an Berghängen, welche die Solarenergie für die Stromproduktion interessant machen.
Für Gunzingers Idealmodell braucht es neben Solarenergie auch Windturbinen, die die Stromproduktion ergänzen sowie Biomassekraftwerke, also Biogas und Holz. Letzteres lässt sich lagern und bei erhöhtem Bedarf, also zum Beispiel im Winter, für die Energieproduktion beiziehen.
Die vielen Stauseen dienen ebenfalls als saisonale Speicher und sind ein wichtiger Notvorrat. Sie füllen sich im Frühjahr und im Sommer bei der Schneeschmelze auf. Sie sollten allerdings nur bei hohem Bedarf, wenn alle anderen Stromquellen ausgeschöpft sind, angezapft werden. Dagegen können mit Pumpspeicherseen tageszeitliche Schwankungen überbrückt werden.
Bei hoher Sonneneinstrahlung oder starkem Wind wird das Wasser in ein höher gelegenes Becken gepumpt, wo es nachts direkt wieder dem Antrieb einer Turbine, also der Stromproduktion, dient. Das Energiemodell der Zukunft funktioniert also, obwohl Sonne und Wind als Energiequellen stark schwanken. Ergänzt wird die Stromversorgung, wie heute schon, durch stets verfügbare Quellen wie Flusskraftwerke und thermische Kraftwerke, zum Beispiel Kehrichtverbrennungsanlagen.
Intelligentes Stromnetz als Schlüssel
Entscheidend für den Erfolg sind auch neue «intelligente» Stromnetze, sogenannte Smart Grids. Während im klassischen Stromnetz die Kraftwerke über Hauptleitungen Strom einspeisen und Haushalte, Dienstleistungsbetriebe und Industrie über dieses Netz versorgt werden, ist das moderne Netz viel dynamischer. Gebäude mit eigenen Solaranlagen sollen in erster Linie den selbst produzierten Strom konsumieren und bei einem Produktionsüberschuss eine eigene stationäre Batterie speisen oder die Batterie des Elektroautos aufladen. Sie können aber auch Energie ins Netz einspeisen. Diese intelligente Ausgestaltung dieses Netzes trägt wesentlich zur Stabilität der Elektrizitätsversorgung bei.
Nicht nur bei der Elektrizität, sondern auch beim Verkehr und bei Gebäuden lässt sich die Energie effizienter nutzen. Schon heute verbrauchen moderne Gebäude kaum Energie, sondern produzieren zum Teil sogar welche. Neben einer guten Isolation und einer Komfortlüftung verfügen sie über Sonnenkollektoren zur Warmwasseraufbereitung sowie über Fotovoltaik-Anlagen zur Stromerzeugung.
Die Schweiz ist mit dem Gebäudeprogramm, das den Bau oder die Renovation nach energetischen Kriterien unterstützt, auf gutem Weg. Im Verkehr gibt es noch grosses Potenzial. Anton Gunzinger glaubt an die Zukunft der Elektromobilität: «Die sich rasant entwickelnde Elektroauto-Technologie wird sich durchsetzen.»
Dabei sei Kostenwahrheit ein zentraler Faktor. Unter Einbezug der verbrauchten Fläche, der Luftverschmutzung und des Lärms müsste ein Liter Benzin heute über 10 Franken kosten, ist Gunzinger überzeugt. «Kostenwahrheit würde auch die Förderung alternativer Techniken ankurbeln.» Die endliche Ressource Erdöl sei zu wertvoll, um innert zwei Jahrhunderten sämtliche Vorräte, die sich in Millionen Jahren gebildet haben, in Benzinmotoren zu verbrennen.
Bundesrats-Szenario ist zu defensiv
Gunzinger fordert eine deutlich radikalere Wende hin zu erneuerbaren Energien als der Bundesrat mit seiner Energiestrategie 2050. Auch diese beabsichtigt, bis zum Jahr 2050 gegenüber dem Jahr 2000 sowohl den Gesamtenergieverbrauch als auch den Stromverbrauch pro Person zu senken. Der Zeitplan dafür ist aber konservativ angelegt: Im Szenario des Bundesrats bleiben die Kernkraftwerke länger im Betrieb, und der Verbrauch von fossilen Energieträgern würde weniger rasch gedrosselt.
Die Versorgungssicherheit zu jedem Zeitpunkt ist eine Grundbedingung für alle geplanten Massnahmen. Ein Vergleich verschiedener Szenarien liefert das überraschende Ergebnis, dass sich mit vorgezogenem Ausstieg aus der Atomenergie und unter weitgehendem Verzicht auf fossile Energien, wie es Gunzinger vorschlägt, gegenüber dem Szenario «weiter wie bisher» bis zum Jahr 2050 rund 740 Milliarden Franken einsparen lassen, gegenüber der Energiestrategie 2050 des Bundes sind es 640 Milliarden. Ausserdem fallen die Kosten für erneuerbare Energien als Investitionen in der Schweiz an, im Gegensatz zu wiederkehrenden Ausgaben im Ausland für den Kauf von Erdöl, Gas oder Uran. Und nur bei Gunzingers Szenario wird der CO2-Ausstoss markant verringert.
Technisch scheint die Energiewende also machbar zu sein, und wirtschaftlich ist sie interessant. Je mehr das Bewusstsein in der Gesellschaft und die Akzeptanz eines neuen sorgsamen Umgangs mit Energie wachsen, desto rascher ist die Energiewende auch politisch umsetzbar.