Die erfolgreichste Skischule der Welt

Während sich die selbst ernannte Skination Schweiz fragt, wo die neuen Sieger bleiben, scheint Österreich das Wundermittel gefunden zu haben, das aus Talenten Gewinner macht.

Internatsschule für Schisportler Skigymnasium Stams. Repotage. Kraftkammer. 30.10.2012. Foto Robert Parigger. (Bild: Robert Parigger)

Während sich die selbst ernannte Skination Schweiz fragt, wo die neuen Sieger bleiben, scheint Österreich das Wundermittel gefunden zu haben, das aus Talenten Gewinner macht.

Der erste Eindruck? Kälte. Grimmige, unsympathische, unbarmherzige Kälte. Der gefrorene Boden knirscht unter den Füssen, der Wind pfeift ­unerbittlich um die Ohren, die Sonne macht blau und wie immer in den Wintermonaten einen weiten ­Bogen um Stams. Als sei das bekannte Skigymnasium ganz bewusst an diesen trostlosen Ort hingestellt worden – als unmissverständliche Botschaft an all die Schüler und zukünftigen Stars: «Wer wirklich an die Weltspitze will, der muss sich warm anziehen.»

Stams im Oberen Inntal, 1300 Einwohner, das sehenswerte Zisterzienserstift wurde 1273 erbaut, der Tiroler Freiheitskämpfer Alois Kluibenschedl, ein Weggefährte von Andreas Hofer, gilt bis heute als berühmtester Sohn der Gemeinde.

Dabei hat dieses Stams, das von Oktober bis März kein Sonnenstrahl erreicht, doch noch viel mehr Berühmtheiten hervorgebracht: Olympia­sieger und Weltmeister, Superstars und Sport­helden, Persönlichkeiten und Publikumslieblinge.

All die Anton Innauers und Ben­jamin Raichs, die Felix Gottwalds und Gregor Schlierenzauers – sie waren als junge Sportler und als Nobodys nach Stams ins Skigymnasium ­gekommen. Verlassen haben sie den Ort dann als angehende Stars und Winnertypen. «Im Skisport sind wir sicher die erfolgreichste Schule der Welt», sagt Arno Staudacher, Direktor der weltbekannten österreichischen Gold-Schmiede. «So eine Schule ist sicher einzigartig.»

Hauptfach Spitzensport

Wer durch die Glastür mit der Aufschrift «Internatschule für Schi­sportler Stams» schreitet, der wähnt sich nicht in einer Schule. Im Eingangs­bereich springen junge ­Burschen leichtfüssig die kniehohen Stufen der Aula hinauf. Teenager in Langlauf­over­alls und mit Skistöcken in den Händen wuseln durch die ­Gänge, der Geruch von frischem Skiwachs liegt in der Luft. Es ist früher Nachmittag, der Schulunterricht ist vorbei, jetzt steht jenes Fach auf dem Stundenplan, wegen dem all die Mädchen und Buben zwischen 14 und 19 Jahren überhaupt erst in Stams sind – das Fach Spitzensport.

Seit 1967 hat sich die Privatschule dem Sport verschrieben. Inzwischen gilt Stams als Inbegriff der österreichischen Erfolge im Wintersport. Hier werden Sieger geformt, hier werden Persönlichkeiten geprägt, hier haben viele Stars von heute das Einmaleins des Gewinnens gelernt. Und nicht nur die ausländische Konkurrenz wundert sich: Was machen die in Stams anders als andere Sportschulen? Warum tragen so viele Sieger des Wintersports das Gütesiegel Made in Stams?

Der Direktor verzieht den Mund

Frage also an den Direktor: «Wie produziert man eigentlich Seriensieger?» Arno Staudacher verzieht demonstrativ den Mund. «Das Wort produzieren gefällt mir überhaupt nicht», erklärt der Schuldirektor. An diesem Wort hänge noch der Ostblock-Mief und mit den einstigen umstrittenen ­Kaderschmieden der DDR wollen die Stamser ja nicht in einem Atemzug genannt werden. «Ausbildung gefällt mir viel besser», sagt also Direktor Staudacher, «was wir hier machen: Wir fördern und fordern die Schüler. Unser Vorteil ist, dass sich über all die Jahre in Stams eine richtige Kultur entwickelt hat.»

So sind heute etliche ehemalige Stams-Absolventen wieder als Trainer in Stams aktiv. «Es gibt keine bessere Ausbildungsschiene», sagt auch Anton Innauer, der lang­jährige Sportdirektor des Österreichischen Skiverbandes, der selbst als Schüler und als Trainer in Stams war. «Dadurch wird auch eine bestimmte Mentalität von Generation zu Generation weitergetragen.»

Tatsächlich wirken diese Schüler in Stams anders als Gleichaltrige. Sicher, auch hier werden beim Mittag­essen Sprüche geklopft. Natürlich, ­einige Modetrends machen auch vor dieser Schule nicht Halt. Und trotzdem: Der Sport scheint diese jungen Menschen extrem zu prägen, er macht sie fokussierter und lässt sie trotz ­ihrer Jugend bereits ein bisschen erwachsen erscheinen.

Die Schüler sprechen schon wie Routiniers

«Wir sind zwar Einzelsportler, aber wir lernen hier auch Sachen wie Stressbelastbarkeit oder Teamfähigkeit», erklärt etwa David Pommer, der Junio­renweltmeister in der Nordischen Kombination, im Stile und in der Diktion eines Sport-Routiniers. «Wir werden hier auch auf das soziale Leben vorbereitet.»

Pommer hat wie jeder andere Stams-Schüler eine harte Aufnahmeprüfung bestehen müssen. Zwei Tage lang werden die 14-Jährigen beim sportlichen Casting getestet, am Ende schaffen es von 150 Bewerbern jedes Jahr nur 45 in die zwei Schulklassen (Gymnasium oder Handelsschule). Bei riesigem Talent wird dabei meist grosszügig über schulische Schwächen hinweggesehen. Stams will keine­ Mathematik-Genies ausbilden, Stams will Seriensieger.

Das Gedränge um die 45 begehrten Plätze ist enorm. Vor allem weil in Stams mittlerweile neben Skifahrern und Skispringern auch Kombinierer, Snowboarder und Biathleten zur Schule gehen. «Da haben wir keinen fixen Aufteilungsschlüssel, sondern stellen die Klassen nach Leistung zusammen», erklärt Harald Haim, Sportdirektor des Skigymnasiums.

Auch Schweizer dürfen hierher

Deshalb kommen auch ausländische Sportler in den Genuss der Ausbildung: Der Schweizer Kombinations-weltmeister Daniel Albrecht ist ein ehemaliger Stams-Schüler. Derzeit sind Jungsportler aus Russland oder den Niederlanden an der Schule.

Jetzt, in den Wintermonaten, sind die Klassen in Stams ohnehin meist verwaist. Der Wettkampfkalender der jungen Wintersportler lässt keinen geregelten Unterricht zu. «Wir haben im Winter relativ oft geschlossen», sagt Sportdirektor Haim lächelnd, «bei uns heisst das dann Rennferien.»

Doch bevor jetzt Otto Normal­schüler der Neid frisst: Die Stamser Schüler müssen den ganzen versäumten Stoff nachlernen. Deshalb gibt es in Stams auch immer noch die SechsTage-Woche, und deshalb beginnt hier das Schuljahr eine Woche früher und endet eine Woche später als im restlichen Österreich. Nur das Sitzenbleiben­ bleibt den jungen Sportlern ­erspart. Durch das Leistungsstufensystem müssen die Schüler nur jenes Fach wiederholen, in dem sie einen Fünfer (in Österreich die schlechteste Schulnote) haben.

Für schlechte Schüler gibt es individuelle Fahrpläne

Schlechte Schüler gibt es natürlich auch in Stams. Für Skisprung-Star Gregor Schlierenzauer, nicht un­bedingt ein Vorzeigeschüler, wurde seinerzeit mit den Lehrern ein individueller Fahrplan geschneidert, um die Schullaufbahn mit halbwegs guten Haltungsnoten zu bewältigen.

Der Direktor ist immer wieder ­verblüfft, zu welchen Punktlandungen­ die jungen Sportler fähig sind. «Es ist faszinierend, wie unsere Schüler ihre Leistung auf den Punkt bringen ­können», erzählt Arno Staudacher mit einem Schmunzeln, «da waren Leute fünf Jahre lang die grosse Pflaume und dann bei der Matura auf einmal sehr gut.»

Für die Jungsportler ist Stams freilich nur auf den ersten Blick ein kleines Schlaraffenland. Das haus­eigene Schwimmbad, der moderne Kraftraum, die perfekte Infrastruktur können nicht darüber hinweg­täuschen, dass ein strenges Regiment geführt wird. Der Stundenplan erlaubt kaum Freizeit und Freiraum, alles wird der Ausbildung zum Spitzensportler untergeordnet.

Wer nicht spurt, fliegt raus

Dazu müssen alle Schüler ausnahmslos im Internat leben, selbst wenn sie direkt aus Stams oder einer benachbarten Gemeinde kommen. Vor allem den Neuen fällt der Einstieg oft schwer. «In den ersten Monaten ist es gut, dass das Programm so dicht ist», erklärt Kombinierer David Pommer, «da hast du keine Zeit zum Nach­denken oder traurig sein.»

Konsequenz und Disziplin werden auch sonst in Stams gross geschrieben.­ Wer sich nicht an die strengen Benimmregeln hält, wird rausgeworfen. Vor allem bei Suchtmitteln verstehen die Schulverantwortlichen keinen Spass. «Wir wollen niemanden mit Zigaretten erwischen und besoffen sollte auch keiner sein», stellt Sport­direktor Harald Haim klar.

Auf fünf Schüler kommt ein Angestellter

53 Lehrer, Trainer und Erzieher sind mittlerweile im Skigymnasium im Einsatz. Das heisst: Auf fünf Schüler­ kommt ein Angestellter. «Die Kostenwahrheit darf man nicht scheuen», sagt Direktor Staudacher, «es gibt sicher keine vergleichbare Schule.» Wie wichtig das Skigymnasium für den österreichischen Sport ist, belegen auch die Investitionen der letzten Jahre. Von 2005 bis 2012 wurden über 14 Millionen Franken in den Ausbau der Infrastruktur (Roller­strecke, Kraftkammer, Turnhalle, Skisprungschanze) gesteckt. Auch für ­Eltern ist Stams ein teures Vergnügen: 630 Franken beträgt das Schulgeld für Einheimische – im Monat.

Und trotzdem: Modernste Infrastruktur hin, beste Trainer her – nicht jeder, der nach Stams geht, kommt auch gross raus. «Die, die mit 14 kommen und dann so Karriere machen, dass sie davon leben können – da ­reden wir von ein bis zwei Prozent», erklärt Arno Staudacher.

Gregor Schlierenzauer ist so ein Hauptdarsteller der Stamser Erfolgsstory. «Stams war zäh», erinnert er sich, «ich war oft gerädert. Aber es hat mich geprägt. Als Sportler und als Mensch.»

Der Tagesplan in Stams
06.00 Aufstehen
06.30 Morgenstudium
07.00 Frühstück
07.50 Unterricht in den Klassen, die aus Schülern aus verschiedenen Sportrichtungen gebildet werden.
12.40 Mittagessen
14.00 Beginn des vierstündigen Trainings in den  hauseigenen Turnhallen, Kräftekammern oder Kletterwänden. Die Skispringer trainieren im Sommer auf der Schanze nebenan in Stams, im Winter in Seefeld. Die Skifahrer zieht es in die nahe gelegenen Skigebiete (Jerzens, Ötztal, Kühtai).
18.15 Abendessen
19.00 Freizeit
19.45 Studium
21.30 Freizeit
22.00 Nachtruhe

Die Liste der Stamser Medaillengewinner *
OLYMPIASIEGER
Skispringen

Karl Schnabl (1976), Anton Innauer (1980), Ernst Vettori (1992), Andreas Kofler (2006, 2010), Andreas Widhölzl (2006), Martin Koch (2006), Gregor Schlierenzauer (2010), Wolfgang Loitzl (2010).
Ski Alpin
Sigrid Wolf (1988), Anita Wachter (1988), Hubert Strolz (1988), Patrick Ortlieb (1988), Mario Reiter (1988), Stephan Eberharter (2002), Benjamin Raich (2x 2006).
Nordische Kombination
Hippolyt Kempf (Schweiz/1988), Christoph Bieler (2006), Felix Gottwald (2x 2006, 2010), Mario Stecher (2006, 2010), Bernhard Gruber (2010), David Kreiner (2010).

WELTMEISTER
Ski Alpin

Andreas Wenzel (Liechtenstein/1978), Stephan Eberharter (2x 1991, 2003), Patrick Ortlieb (1996), Mario Matt (2001, 2007), Benjamin Raich (2x 2005, 2005, 2007), Daniel Albrecht (Schweiz/2007), Nicole Hosp (2007), Marlies Schild (2007, 2011), Manfred Pranger (2009), Elisabeth Görgl (2x 2011).
Skispringen
Armin Kogler (1979, 1982), Andreas Felder (1986, 1987, 1991), Heinz Kuttin (1991), Ernst Vettori (1991), Martin Höllwarth  (2001, 2x 2005), Wolfgang Loitzl (2001, 2005, 2007, 2x 2009, 2010), Andreas Widhölzl (2x 2005), Gregor Schlierenzauer (2007, 2008, 2009, 2010, 3x 2011, 2012), Andreas Kofler (2007, 2008, 2x 2011, 2012), Martin Koch (2008, 2009, 2010, 2x 2011, 2012), Daniela Iraschko (2011).
Langlauf
Markus Gandler (1999)
Nordische Kombination
Günther Csar (1991), Klaus Ofner (1991), Klaus Sulzenbacher (1991), Christoph Bieler (2003), Willi Denifl (2003), Mario Stecher (2x 2011), Felix Gottwald (2x 2011), David Kreiner (2x 2011), Bernhard Gruber (2x 2011).
Snowboard
Markus Schairer (2009).
* Sofern nicht anders vermerkt, stammen die Sportlerinnen und Sportler aus Österreich.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 25.01.13

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