Die Euro- und Schuldenkrise zeigt, wie schnell in den Ländern der EU alte Ressentiments aufbrechen und das friedliche Zusammenleben strapazieren können.
Dank der EU haben wir seit Jahrzehnten Frieden in Europa! Das ist eine fragwürdige Meinung und obendrein ein billiges Argument, wenn es darum geht, berechtigter Kritik an Fehlentwicklungen der EU zu entgegnen. Die Kausalität lässt sich sogar umdrehen: Die EU wurde vor allem darum möglich, weil wir Frieden haben. Zusammen mit der Nato war sie gewiss ein Gebilde, das nicht in erster Linie den Frieden, sondern die Freiheit sicherte, und zwar im westeuropäischen Raum gegen den Osten.
Der Zusammenhalt der EU lebte zu einem grossen Teil von der wenig friedlichen Polarität in der Zeit des Kalten Krieges. Die Bedeutung der EU als Friedens- und Freiheitsgarantin mag für frühere Zeiten überschätzt werden. In der heutigen Zeit wird sie eher unterschätzt und verkannt.
Neuerdings ist nämlich eine andere Form des Friedens wichtiger geworden, ohne damit den alten Frieden unwichtig zu machen. Mit dem alten Frieden beziehungsweise Unfrieden sind die mehr oder weniger konventionellen Konflikte zwischen Staaten gemeint. Der andere, inzwischen wichtiger gewordene und schon immer wichtig gewesene Friede betrifft die innerstaatlichen, gesellschaftlichen Verhältnisse, das heisst die demokratischen und die sozialen Gegebenheiten. Die Gefährdung der Demokratie ist zurzeit vor allem in Ungarn offensichtlich, und der soziale Frieden ist derzeit vor allem in Griechenland bedroht. Doch beide Bedrohungsformen liegen latent überall in Europa auf der Lauer.
Es braucht «Einmischung»
Die EU ist darum gefordert, sie muss jetzt zeigen, dass sie ein Friedensprojekt ist. Man kann ihr zugute halten, dass sie bereits etwas bewirkt hat, ohne wirklich etwas getan zu haben, weil alles ohne sie wahrscheinlich viel schlimmer wäre. Das bleibt aber Spekulation. Die EU muss aber proaktiv dafür sorgen, dass unfriedliche und unfreiheitliche Verhältnisse, zum Beispiel in Ungarn und Griechenland, nicht überhand nehmen.
Das wird nicht ohne Forderungen gehen, die in den angesprochenen Ländern als «Einmischung» empfunden und von Politikern als unakzeptable Zumutung hochgekocht werden. Das kennt man ja auch aus der Schweiz. Man pocht da schnell auf die nationale Souveränität, obwohl gerade in der EU die «innere Angelegenheit» dadurch eingeschränkt worden ist, dass man auch eine Solidaritätsgemeinschaft ist. Wer Solidarität haben will, muss auch Mitsprache in Kauf nehmen. Am ehesten funktioniert dies, wenn Finanzen im Spiel sind. Zum Glück ist das auch in Ungarn so, und dieses Land ist auf Hilfe von aussen angewiesen.
Der Fall Griechenland besteht zwar aus einem Bündel zahlreicher Akteure, er wird aber in unserer Neigung, alles zu vereinfachen, vor allem als bilaterales, deutsch-griechisches Problem verstanden. Insofern als er dies bis zu einem gewissen Grad tatsächlich ist, haben die Staatsführungen beider Seiten die Aufgabe, die Bürgerinnen und Bürger ihrer Länder zu besänftigen statt aufzuputschen. Zugleich haben sie dafür zu sorgen, dass nicht mit unbedachten Worten und Vorschlägen auf der Gegenseite Ressentiments geschürt werden. Anderseits sollten problematische Äusserungen, die es immer gibt, nicht als willkommene Anlässe genutzt werden, mit Ressentiments zu reagieren.
Starke Worte, schwache Worte
Im Konkreten sind die Verhältnisse nie symmetrisch. Die eine Seite erscheint stärker als die andere, obwohl beide, wenn auch unterschiedlich, von einander abhängen. Der Stärkere muss unter Umständen schwächere Worte einsetzen, derweil der wirklich Schwächere meint, zu starken Worten greifen zu müssen.
Dass ausgerechnet ein deutscher Minister für Griechenland einen europäischen Kommissar vorschlug, war nicht klug, auch wenn es innenpolitisch vielleicht gut getan hat und sachlich möglicherweise richtig war. Andererseits war es kaum klug, dass der griechische Staatspräsident Karolos Papoulias, sicher mit Blick auf das ei-gene Volk, deutsche Kritik als unakzeptable Beleidigung einstufte. Und es ist höchst unfair, wenn Kanzlerin Merkel von einem griechischen Boulevardblatt in Nazi-Uniform präsentiert wird. Schliesslich mag es verständlich sein, aber alles andere als konstruktiv, wenn Griechen zum Boykott von deutschen und niederländischen Waren aufrufen. Europa- und Deutschlandfahnen werden zwar von Hitzköpfen angezündet, die es immer und überall gibt, aber ein Warnsignal ist das allemal.
In Griechenland zeigt sich dramatisch die bereits zur Marshallplan-Zeit von 1947 vorliegende Problematik: Bei breiter Verelendung kann es keinen Frieden geben und werden die Menschen für extreme Ideologien ansprechbar. Wohl muss der Finanzhaushalt eines Landes stimmen, es müssen aber auch – jenseits von Schulden und Schuldfragen – die Alltagsverhältnisse stimmen. Frieden, Wohlstand und Demokratie hängen von einander ab und bedingen sich gegenseitig.
Nichtsnutze, Herrenmenschen
Ausser konkreter Hilfe ist offensichtlich auch guter europäischer Geist gefragt und gefordert. Mithin eine Haltung, die nicht in billigem Nationalismus macht und sich diesem auch aktiv entgegenstellt. Dies gilt insbesondere für die kruden Stereotypen, die in den Südländern nur «faule Nichtsnutze» und in den Nordländern nur «grobe Herrenmenschen» sehen wollen. Und es gilt auch für schräge Geschichtsbilder, die jetzt hochkommen. Auf der einen Seite erwarten Griechen besondere Nachsicht, weil sie den Europäern doch die Kultur gebracht hätten, was, wenn es überhaupt zutrifft, sicher die Griechen der Gegenwart so nicht für sich reklamieren können. Und auf der anderen Seite wird Griechenland gerne nachgesagt, durch die byzantinische und osmanische Phase in fataler Weise geprägt zu sein.
Dann sollte man aber die ganze Geschichte aufzeigen und eingestehen, dass sich die osmanische Herrschaft in den letzten Jahrzehnten ihrer Existenz (vor 1914) auch schon in der Abhängigkeit westeuropäischer, privater und doch staatlich geschützter Finanzgesellschaften befand, was uns wiederum an die Gegenwart erinnern kann.
Die aktuellen Schwierigkeiten enthalten die Möglichkeit, elementare Lektionen zu lernen. Die wichtigste ist die, dass in der Schicksalsgemeinschaft die gegenseitige Abhängigkeit gewachsen ist und damit auch die Bedeutung der Europa- oder der Weltinnenpolitik. Diese Einsicht macht es schwieriger, sich in national einseitigen Schuldzuweisungen zu ergehen.
Gegensteuer, aber wann?
Auf deutscher Seite kann man, um nur dieses einigermassen konkrete Beispiel zu nennen, nicht eine Reduktion der griechischen Staatsausgaben erwarten und sich zugleich dagegen wehren, dass Athen die viel zu hohen Verteidigungskosten reduziert und damit vereinbarte deutsche Waffenlieferungen, an denen wiederum deutsche Arbeitsplätze hängen, infrage stellt.
Im Falle Griechenlands, wie übrigens im Falle Ungarns, stellt sich die alte Frage: Wann soll gegen ungute Entwicklungen energisch Gegensteuer gegeben werden? Warum hat «man» es in Griechenland so weit kommen lassen? Wie unakzeptabel müssen die Dinge sein, bis sie wirklich nicht mehr akzeptiert werden?
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble erklärte vorigen Monats (vgl. «Die Zeit» vom 9. Februar 2012): «Es wurde zu lange versäumt, den wirtschaftlichen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken.» Wen meinte er damit? Die EU, Deutschland, Griechenland? Wie weit kann man, abgesehen von den schnell gescholtenen Banken, die Regierungen, die Parlamente und schliesslich die Bürger und Bürgerinnen dafür verantwortlich machen?
Im richtigen Moment Einhalt gebieten setzt Wachsamkeit und Eingriffsmöglichkeiten voraus. Die EU verfügt – theoretisch – über beides, mit der neuen Fiskalunion mehr denn je. Die Gemeinschaft muss die selbst auferlegten Regeln nur noch ernst nehmen, jedenfalls ernster als die schon vorhandenen Regeln bisher.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09.03.12