Ein Jahr nach der Entmachtung des islamistischen Präsidenten Mohammed Morsi durch die Armee herrscht in Ägypten eine oberflächliche Ruhe. Sie ist das Resultat einer brutalen Unterdrückung jeglicher Opposition. Der «Krieg» gegen die Muslimbrüder geht unvermindert weiter.
Eine «Intifada» – einen Volksaufstand – haben die Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Morsi für den 3. Juli ausgerufen. Sie versprechen Präsident Sisi, dass der Jahrestag des Putsches sein letzter Tag sein werde. Solchen Aufrufen sind in den vergangenen Monaten nur noch wenige Muslimbrüder gefolgt; manchmal einige Dutzend, dann nach den massenweisen Todesurteilen wieder einige Hundert.
Die Polizei greift sofort ein – oft unterstützt von Anwohnern – und erstickt jeden Protest im Keim. Immer wieder gibt es Tote und weitere Verhaftungen. Diese Art Kundgebungen sind zu einem Ritual geworden. Neue kreative, friedliche Formen des Protestes sind keine entstanden. Für den Jahrestag des Morsi-Sturzes sind Märsche von 35 Moscheen angesetzt, wie am 28. Januar 2011, als die Tahrir-Revolution mit Unterstützung der Muslimbrüder richtig in Gang kam.
Gesellschaftlich isoliert
Seit auch die jungen Revolutionsaktivisten und jegliche Opposition ins Visier der neuen Führung geraten sind, versuchen die Islamisten sich vor allem als Verfechter der Anliegen der Revolution zu profilieren. Dennoch seien die Muslimbrüder noch nie in ihrer über 80-jährigen Geschichte in der Gesellschaft so isoliert gewesen wie heute, erklärt Hassan Nafaa, Politologe an der Kairoer Universität. Das hat vor allem zwei Gründe: die Gewalt und ihre Weigerung, die neuen Realitäten anzuerkennen.
Zwar ist auch die Welle von Anschlägen – vorwiegend gegen Sicherheitskräfte – etwas abgeflacht, aber sie flammt immer wieder auf. Diese Woche explodierten vor dem Präsidentenpalast in Kairo mehrere improvisierte Sprengsätze, dabei starben zwei Polizisten.
Die Muslimbrüder distanzieren sich zwar von jeder Gewalt, aber es ist anzunehmen, dass eine gewisse Verstrickung mit gewaltbereiten Splittergruppen besteht. Für die Regierung steht diese Verbindung ausser Zweifel. Der Krieg gegen die Muslimbrüder werde weitergehen, erklärte Innenminister Mohammed Ibrahim nach den jüngsten Anschlägen.
Falken geben den Ton an
Getroffen hat diese Salve weitere fünf Kader von islamistischen Parteien, die am Dienstag verhaftet wurden. Sie sind die letzten einer Repressionskampagne, die an die 20’000 Muslimbrüder ins Gefängnis gebracht hat, von denen Hunderten – darunter Morsi und der gesamten obersten Führungsriege – die Todesstrafe droht. Bei der Auflösung der Morsi-Protestlager waren 1400 Menschen getötet worden. Über deren Tod verlangen nicht nur die Muslimbrüder, sondern auch nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen Aufklärung.
Die Regierung hat zudem das Vermögen der Muslimbrüder konfisziert, und mehrere Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien und die Emirate, machen Druck auf verschiedene Regierungen, den Spielraum der Muslimbrüder im Ausland einzuschränken. Die Organisation ist deshalb ein Jahr nach der Entmachtung massiv geschwächt und nicht in der Lage, eine interne Diskussion über die Revision ihrer Positionen einzuleiten, obwohl einzelne Mitglieder inzwischen Fehler eingeräumt haben.
Die Schraube wird angezogen mit verschärften Gesetzen, etwa gegen Terrorismus.
Zwar gibt es dissidente Gruppierungen wie die «Jugend gegen Gewalt», aber im Moment haben weiterhin die alten Hardliner das Sagen. Sie haben bisher keine Vorschläge unterbreitet, die auf die neuen Realitäten eingehen, mit einer Verfassung und einem Präsidenten, die von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung gutgeheissen werden.
Aber auch auf der Seite der ägyptischen Führung geben die Falken, allen voran der Innenminister, den Ton an. Die Schraube wird angezogen mit verschärften Gesetzen, etwa gegen Terrorismus, neue Kontrollen der sozialen Netzwerke werden eingeführt und die roten Linien in den Medien enger gezogen.
Präsident Abdelfattah al-Sisi hat nach seiner Wahl keine Kursänderung angedeutet. In wenigen Monaten finden Parlamentswahlen statt, mit denen der politische Fahrplan abgeschlossen werden soll, und noch ist nicht klar, ob den Islamisten eine Teilnahme erlaubt wird oder nicht. Die Verhaftung weiterer Parteikader spricht eher für ein Nein.
Sackgasse ohne Ausweg?
Es herrscht eine Kultur der Rache. Ansätze für einen politischen Ausgleich gibt es derzeit nicht. Mit der Einstufung der Muslimbrüder als «terroristischer Organisation» ist ein Ausweg aus dieser verfahrenen Situation schwierig geworden. Kommt dazu, dass auch die Stimmung in der Bevölkerung von Hass gegen die Islamisten geprägt ist. Sie werden für jede negative Entwicklung verantwortlich gemacht.
Diese oberflächliche Ruhe könnte aber trügerisch sein. Für eine dauerhafte, stabile Entwicklung sei es zwingend notwendig, die auseinanderklaffenden Teile der Gesellschaft zusammenzubringen und eine gemeinsame Basis zu finden, ist Politologieprofessor Nafaa überzeugt.