Napoleons Russlandfeldzug gehört zu den gigantischeren Militäraktionen. Das schon – aber warum gedenkt man seiner noch heute, nach 200 Jahren? Sogar in der Schweiz.
Es ist schon sonderbar, wie sehr der vor 200 Jahren unternommene gigantische Russlandfeldzug von Napoleons Grande Armée heute noch fasziniert. Dass er im angegriffenen Russland mit theatralischen Inszenierungen nachgespielt wird – man denke auch an Tolstois «Krieg und Frieden» –, kann man ja verstehen, wird doch damit die erfolgreiche Abwehr einer Invasion gefeiert, die gegen das Land gerichtet war. Aber im Westen selber?
Faszination für Kriegsverbrecher
Hier lebt die Faszination von der erstaunlich positiven Einschätzung Napoleons. Dass dieser Mann nach heutigen Massstäben ein Aggressor, ja ein Kriegsverbrecher war, tut dem keinen Abbruch. Vive l’empereur! Noch vor wenigen Jahrzehnten spielten heftig in die Pianotasten greifende Mütter ihren Kindern bedenkenlos das 1840 von Schuman vertonte Heinrich-Heine-Gedicht von 1816 vor, in dem ein tödlich verwundeter und auf dem Rückzug aus Russland befindlicher Grenadier schwor, bei seiner Auferstehung erneut dem offenbar unsterblichen Kaiser zu Hilfe zu eilen. Welcher Nationalität der Grenadier war, ist unwichtig. In der Grossen Armee sollen Angehörige von rund 20 Nationen mitgekämpft haben: Es hätte auch ein Schweizer sein können.
Man kann sich fragen, warum der Russlandfeldzug das herausragende Gedenkereignis geworden ist und nicht etwa der Spanienfeldzug von 1806–1812, der in seiner Grausamkeit, wie Goyas Radierungen zu «Desastres de la Guerra» zeigen, in nichts dem Kriegsgrauen und den Kriegsgräueln des Russlandfeldzugs zurücksteht. Man könnte eine Antwort auch in der Tatsache sehen, dass sich die Geschichte mit Hitlers Überfall auf die Sowjetunion wiederholte. Eben wurde – offenbar dem dezimalen Gedenken geschuldet – die vor 70 Jahren eingeleitete Wende bei Stalingrad in Erinnerung gerufen.
Napoleons Fiasko war bereits 1912 ein Gedenken wert; nachvollziehbar kaum in Frankreich, stärker in Russland und in England. Worin sich das damalige vom heutigen Gedenken unterscheidet, könnte interessante Aufschlüsse bringen. Dieses Unternehmen war und ist gewiss ein Schulbeispiel für Anmassung und Übermut (Hybris) und – folgerichtig – für Bestrafung und Untergang.
Wir müssen heute nicht mehr diskutieren, wie weit Napoleon nur Kriegsherr und nicht Staatsmann war und ob es richtig war, den ewigen Störenfried nach St. Helena zu verbannen. Statt sich in sein Genie einzufühlen, sollte heutiges Gedenken weder dem korsischen Feldherrn gelten, noch sich auf zu einfache Weise von den gigantischen Dimensionen des Unternehmens (über 600 000 Soldaten, begleitet von vielen Zivilisten, Frauen und Kindern) beeindrucken lassen.
Hoffnung auf Beute und Abenteuerlust
Die wichtigste und doch kaum angegangene Frage wäre, was Menschen bewogen hat, da mitzuziehen. Im Falle Frankreichs (rund 140 000 Soldaten) aus patriotischer Regung? Im Falle der anderen aus Bündnistreue? Waren es der angebotene und doch oft ausgebliebene Sold und die vage Aussicht auf Beute, das heisst Plünderungsgewinne? War Abenteuerlust im Spiel? Vielerlei Formen von Druck und gar Zwang? Oder gegenseitige Ansteckung bis zur Massenbewegung? Welche Rolle spielte die Propaganda?
Der Russlandfeldzug ist jedenfalls ein eindrücklicher Beleg für die erschreckend grosse Verführbarkeit von Menschen, sich gegen ihre eigentlichen Interessen für ein zwar grossartig daherkommendes, aber unsinniges Unternehmen mobilisieren zu lassen. Das Resultat war nicht nur der immense Verlust an Kombattanten, sondern auch die Schneise der Verwüstung (Verheerung), die diese Operation durch Europa frass, sowie Tod und Verderben unter der Zivilbevölkerung, die in den Gedenkfeiern meist ausgeblendet wird.
Vor der Frage nach den Gründen der Mobilisierbarkeit wird oft und einfach auf den französischen Kaiser zurückgegriffen, mit Hinweisen auf seine Verführungskunst, sein Charisma, sein imponierendes Auftreten. Das könnte allerdings nur erklären, warum die mobilisierten Kämpfer durchhielten. Dazu gibt es eindrückliche Legenden, die darlegen, wie Napoleon bei seinen nächtlichen Auftritten an Biwakfeuern einzelne Soldaten bei ihren Namen anzusprechen gewusst haben soll.
Lügen im Armee-Bulletin
Das Armee-Bulletin vom 3. Dezember 1812 log, wenn es behauptete, dass der Kaiser «bei allen Operationen stets inmitten seiner Garde marschiert» sei. Dass es dem nachts in Bärenfelle eingehüllten Napoleon stets besser ging und der Anführer sich angesichts des offensichtlichen Fiaskos per Kutsche heimlich von seiner geschlagenen Armee absetzte, konnte viele Soldaten in ihrer Opferbereitschaft nicht irre machen. Der Waadtländer Adjutant-Major L. M. F. Bégos behielt trotz der Erfrierungen an Füssen und Fingern seine Bewunderung für den Empereur uneingeschränkt aufrecht – und wirkte dann im schweizerischen Militärwesen weiter.
Im Falle der Schweizer liegt ein Teil der Antwort auf die Frage nach der Motivation in der staatsvertraglich vereinbarten Verpflichtung, eine bestimmte Zahl von Soldaten zu stellen. Da die schwache Zentralbehörde das nicht selber umsetzen konnte, erhielten die Kantone abgestufte Zahlenvorgaben zugeteilt. Diese wurden zum Teil auch mit Nichtschweizern erfüllt. Anderseits stiessen Schweizer auch direkt vom Ausland aus und ohne schweizerische «Abkommandierung» zu den napoleonischen Truppen. 12 000 sollen sich auf den Weg gemacht haben, einige gingen verloren, so dass es in Russland noch etwa 8000 waren. An der Beresina sollen es anfänglich noch 1500 Mann gewesen sein, am Schluss noch 300 Mann.
Tessiner Erinnerungswille
100 Jahre nach 1912 wird nun also erneut, aber in Folge stärkerer Mediatisierung in gesteigertem Mass, der gigantische Feldzug in vielfältiger Weise, mit Gedenkanlässen, Ausstellungen, Filmen und vor allem mit zahlreichen Publikationen in Erinnerung gerufen. In der Schweiz hat Daniel Furrer, Gymnasiallehrer und Lehrbuchautor, ein sonderbares Buch zum Thema beigesteuert: eine Kombination von verdienstvollen Auswertungen zeitgenössischer Erinnerungsschriften zu den Lebensbedingungen und Kriegspraktiken einerseits und pseudophilosophischen Allgemeinplätzen andererseits über das Wesen des Menschen und das Elend des Krieges – «unter der dünnen Haut der Zivilisation lauert der Unmensch» (S. 158). Im Weiteren hat sich das Historische Museum Luzern des Themas angenommen (die Ausstellung dauert bis 19. August).
Im Tessin hat der Erinnerungswille eine eigene Tradition. Seit 1816 wird im Bleniotal (in Leontica, Aquila und Ponto Valentino) einmal im Jahr, und in diesem Jubiläumsjahr ganz speziell, in Prozessionen an den Russlandfeldzug erinnert. In den Medien, die gerne über solches Brauchtum berichten, heisst es, dass Napoleon seine Freude an diesen Umzügen hätte. Eigentlich gilt das Gedenken aber gar nicht dem französischen Feldherrn, sondern es ist das Einlösen eines Versprechens: Im härtesten Moment der Bedrängnis an der Beresina hätten die Tessiner gelobt, daheim die Kirche zu unterstützen, falls sie je heil nach Hause kämen.
Verharmlosende Folklore
Daher die Umzüge in alten Uniformen, die man sich anfänglich aus schweizerischen Armeebeständen leihen musste. Nach und nach konnte man über die Vermittlung von Tessiner Emigranten mit im Ausland gekauften Uniformen einen eigenen Fundus zusammenstellen. Der lokale Klerus soll anfänglich über die militärhistorische Anreicherung der Kirchenfeiern wenig begeistert gewesen sein. Eine gewisse Reserve wäre allerdings eher heute am Platz, da folkloristische Anlässe das napoleonische Unternehmen unvermeidlich verharmlosen.
Die Erinnerungsveranstaltungen ziehen sich im Tessin über mehrere Monate hin. Am 15./16. September ist die offizielle Feier in Bellinzona. Das zum Jubiläum publizierte Buch versucht, die Ursprünge des Brauchtums zu klären. Ein Befund lautet, dass zwischen drei und sechs Tessiner am Russlandfeldzug teilgenommen hätten. Die daraus erwachsene Umzugs-tradition möchte man aber als Unesco-Weltkulturerbe anerkannt bekommen. Hier zeigt sich ganz speziell, dass rituelles Erinnern mit zeitlichem Abstand zum Bezugspunkt formal nicht schwächer werden muss, sondern sogar stärker werden kann. Was an lebendiger Emotionalität damit verbunden ist, darf offen bleiben.
Die Grenadiere
(Heinrich Heine)
Nach Frankreich zogen zwei Grenadier’,
Die waren in Russland gefangen.
Und als sie kamen ins deutsche Quartier,
Sie liessen die Köpfe hangen.
Da hörten sie beide die traurige Mär:
Dass Frankreich verloren gegangen,
Besiegt und zerschlagen das tapfere Heer, –
Und der Kaiser, der Kaiser gefangen.
Da weinten zusammen die Grenadier’
Wohl ob der kläglichen Kunde.
Der eine sprach: Wie weh wird mir,
Wie brennt meine alte Wunde!
Der andre sprach: das Lied ist aus,
Auch ich möcht mit dir sterben,
Doch hab’ ich Weib und Kind zu Haus,
Die ohne mich verderben.
Was schert mich Weib, was schert mich Kind,
Ich trage weit bess’res Verlangen;
Lass sie betteln gehn, wenn sie hungrig sind, –
Mein Kaiser, mein Kaiser gefangen!
Gewähr’ mir Bruder eine Bitt’:
Wenn ich jetzt sterben werde,
So nimm meine Leiche nach Frankreich mit,
Begrab’ mich in Frankreichs Erde.
Das Ehrenkreuz am roten Band
Sollst du aufs Herz mir legen;
Die Flinte gib mir in die Hand,
Und gürt’ mir um den Degen.
So will ich liegen und horchen still,
Wie eine Schildwacht, im Grabe,
Bis einst ich höre Kanonengebrüll
Und wiehernder Rosse Getrabe.
Dann reitet mein Kaiser wohl über mein Grab,
Viel Schwerter klirren und blitzen;
Dann steig’ ich gewaffnet hervor aus dem Grab –
Den Kaiser, den Kaiser zu schützen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 10.08.12