Die Flüchtlinge in Mazedonien sind das Faustpfand des Präsidenten

Tausende Flüchtlinge vor allem aus Syrien nutzen Mazedonien jeden Tag als Transitland nach Westeuropa. Das Balkanland hat die Grenzen geöffnet, zeigt sich aber völlig überfordert mit dem Ansturm. Es gibt Anzeichen dafür, dass die mazedonische Regierung, die Flüchtlingskrise politisch ausnutzt.

Die griechisch-mazedonische Grenze bei Gevgelija. Derzeit wird die Grenze von der Polizei abgeriegelt, um weitere Fl�chtlingsstr�me zu verhindern ./ The greek-macedonian border at Gevgelija. At the moment the border is closed by the police in order to prevent further refugee masses.

(Bild: n-Ost/Marko Risović)

Tausende Flüchtlinge vor allem aus Syrien nutzen Mazedonien jeden Tag als Transitland nach Westeuropa. Das Balkanland hat die Grenzen geöffnet, zeigt sich aber völlig überfordert mit dem Ansturm. Es gibt Anzeichen dafür, dass die mazedonische Regierung, die Flüchtlingskrise politisch ausnutzt.

Die Verzweifelten rennen die letzten Meter über die Gleise. Der Zug zur mazedonisch-serbischen Grenze rollt durch den Bahnhof von Gevgelija an der Grenze von Mazedonien zu Griechenland. Eigentlich sollte er an der Station nicht mehr anhalten, denn die Reise beginnt im Lager einen Kilometer hinter dem Bahnhof. Eigentlich sollten alle dort zugestiegen sein. Doch das Wort «eigentlich» hat in Gevgelija, wo das mazedonische Durchgangslager für die Flüchtlinge liegt, seine Bedeutung verloren. In dem Durcheinander gibt es keine Regeln.

Die Bremsen des Zugs quietschen, die Flüchtlinge auf den Gleisen werfen den andern im Zug ihre Taschen zu. Dann klettern sie auf. Durchatmen, ein Schluck Wasser, weitergereicht von irgendjemandem, der Proviant dabei hat. Alhamdulilah, Lob sei Gott!

Das Flüchtlingslager Gevgelija, das die UN am Grenzübergang zu Griechenland aus dem Boden gestampft hat, gleicht einem Nadelöhr aus Schmutz und Staub. Plastikplanen am Boden, darüber eine zweite aufgespannte Plane als Sonnenschutz, willkommen in Mazedonien!

Hier bekommen die Flüchtlinge ein Papier, das sie berechtigt, sich 72 Stunden in dem Balkanland aufzuhalten. Selbst wer genügend Geld hat, darf sich in der Grenzstadt kein Hotelzimmer suchen, wie etwa im benachbarten Serbien. «Unser Ministerpräsident tickt wie Viktor Orbán», sagt die mazedonische Menschenrechtsaktivistin Mersiha Smailovic. Sie gehört zu den wenigen in Mazedonien, die sich um das kümmern, was eigentlich Regierungsaufgabe wäre. Ihre Organisation «Legis» versorgt Flüchtlinge mit Essen und Trinken.

Die mazedonische Regierung beschränkt sich im Wesentlichen darauf, das UN-Flüchtlingswerk UNHCR, das Rote Kreuz und kleinere Nichtregierungsorganisationen machen zu lassen. Sie liefert Strom in das provisorische Lager und lässt es durch Sondereinheiten bewachen. Ansonsten werden die Flüchtlinge zur Kasse gebeten. Für das Zugticket an die mazedonisch-serbische Grenze zahlen sie umgerechnet zehn Euro.

Die Europäer sollen aus Mitleid zahlen

Wie es weitergeht in Gevgelija, wenn der Flüchtlingsstrom im Herbst nicht abebben sollte, dafür gibt es nur Indizien. Sie sind wenig beruhigend. Das UNHCR rechnet damit, dass der Aufenthalt der Flüchtlinge länger werden könnte, wenn andere Länder auf der Balkanroute die Grenzen schliessen sollten. Dann müsste das Durchgangslager in Gevgelija vergrössert werden. Vielleicht entstünde dann eine Zeltstadt, die den Camps im türkischen Reyhanli oder dem jordanischen Zataari gleicht. Die Frage ist, wer für die Kosten aufkommen soll. Die mazedonische Regierung wird es nicht sein, vermutet Mersiha Smailovic.

Mazedonien entblösst die menschenunwürdigen Zustände im Lager Gevgelija vor der Weltpresse mit auffallender Offenheit. Reportern werden keine Steine in den Weg gelegt, das Lager zu besuchen und mit Flüchtlingen zu sprechen. Die Transparenz wirkt verdächtig, denn Mazedoniens autoritäre Regierung ist im Umgang mit Medien eher für Zensur und Einschüchterung bekannt. Die Aktivistin Mersiha Smailovic vermutet, dass dies einem Kalkül folgt. Mazedonien wolle der Welt zeigen, dass es sich nicht um die Flüchtlinge kümmern kann. Die Europäer sollen aus Mitleid für die Angekommenen zahlen.

«Die Eskalation war teilweise inszeniert»: Lesenswertes Interview mit dem serbischen Fotografen Marko Risovic über die Situation in Gevgelija.

Das Balkanland gehört selbst zu denjenigen Ländern, die einen Braindrain in Richtung Westen erleben. Wer studiert hat, versucht meist, einen Job in der EU zu finden. Und auch wer nicht studiert hat, träumt davon, das Land zu verlassen. Mazedonien ist nicht nur eines der ärmsten Länder Europas, es ist auch gelähmt durch die Spannungen zwischen den Volksgruppen und politischen Parteien. Für die Regierung des russlandfreundlichen Nationalisten Nikola Gruevski ist das Flüchtlingsdrama eine Chance, aus der Isolation herauszufinden.

In diese Lage hineinmanövriert hat sich Gruevski selbst durch seinen rabiaten Umgang mit Medien und Oppositionellen. Aber nun braucht die EU plötzlich einen Politiker, den viele in Westeuropa während der Protestwelle in Skopje im Frühjahr mit dem gestürzten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch verglichen haben. Jetzt müssen die Europäer mit Gruevski reden, der die Flüchtlinge wie ein Faustpfand in der Hand hat.

Für die Regierung in Skopje scheinen nicht die Flüchtlinge von Vorrang zu sein, sondern eher wie sie das Drama für ihre eigenen Zwecke und den Machterhalt in dem Krisenland nutzen kann.

Gruevski könnte schliesslich auch anders. In den staatsnahen mazedonischen Medien werden die syrischen Flüchtlinge mit dem IS und der albanischen UCK in Verbindung gebracht. Ein Schreckensszenario verheisst der slawischen Mehrheitsbevölkerung, dass sich die meist muslimischen Flüchtlinge vor allem aus Syrien mit der muslimischen Minderheit der Albaner verbinden könnten.

In Mazedonien bedeutet das, bewusst Ängste und Spannungen zu erzeugen in einer explosiven Lage, in der es erst im Mai bewaffnete Auseinandersetzungen in der Stadt Kumanovo gegeben hat. Damals wurden albanische Rebellen beschuldigt, andere sahen hinter den Kämpfen eine Inszenierung, um von den Protesten gegen die Regierung abzulenken.

Ob der neue UCK-Aufstand mehr war als ein Mythos, ist bis heute umstritten. Unumstritten ist, dass die Flüchtlingskrise ein polarisiertes Land vor grosse Herausforderungen stellt. Die Regierung in Skopje scheint aber weniger zu interessieren, was gut für die Flüchtlinge ist. Für sie scheint von Vorrang zu sein, wie sie das Drama für ihre eigenen Zwecke und den Machterhalt in dem Krisenland nutzen kann.

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