Endstation Gevgelija – die Reise der Flüchtlinge über den Balkan nach Europa

Die Strecke über Griechenland, Mazedonien und Serbien nach Ungarn und damit nach Westeuropa ist zu einer der beliebtesten Fluchtrouten geworden. Die Balkan-Staaten sind von dieser Entwicklung überfordert. Eine Reportage von der Flucht nach Europa.

(Bild: n-Ost/Marko Risović)

Die Strecke über Griechenland, Mazedonien und Serbien nach Ungarn und damit nach Westeuropa ist zu einer der beliebtesten Fluchtrouten geworden. Die Balkan-Staaten sind von dieser Entwicklung überfordert. Eine Reportage von der Flucht nach Europa.



Die griechisch-mazedonische Grenze bei Gevgelija. Derzeit wird die Grenze von der Polizei abgeriegelt, um weitere Fl�chtlingsstr�me zu verhindern ./ The overcrowded train station at Gevgelija where thousands of refugees try to catch a train to Serbia. The greek-macedonian border at Gevgelija. At the moment the border is closed by the police in order to prevent further refugee masses.

Der überfüllte Bahnhof von Gevgelija, von wo täglich Tausende von Flüchtlingen versuchen mit dem Zug nach Serbien zu gelangen. (Bild: n-Ost/Marko Risović)

Der Bahnhof Gevgelija an der mazedonisch-griechischen Grenze ist zum Symbol der Flüchtlingskrise geworden. Hunderte Menschen warten hier darauf, Mazedonien wieder zu verlassen und den Weg nach Westeuropa aufzunehmen.

Unter ihnen befindet sich Omar Kerem, ein Pharmazeut aus Damaskus, seine Frau und seine drei Kinder. Sie melden sich in Gevgelija an, wo sie in der Nähe des Bahnhofs ein Zelt aufgestellt haben. Danach haben sie 72 Stunden Zeit, das Land zu verlassen.

Omar Kerem betont, dass er keine andere Wahl hatte, als Damaskus zu verlassen: «Meine Apotheke, mein Haus und mein Auto – alles habe ich verloren. Ich danke Gott dafür, dass es wenigstens meiner Familie gut geht. Ich werde mich aufopfern, damit meine Kinder eines Tages ein besseres Leben führen können.»

Das Rote Kreuz und das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen haben Zelte und Toiletten für die Menschen errichtet, die rund um den Bahnhof schlafen. Ein Helfer des Roten Kreuzes sagt: «Die Gruppen werden immer grösser, und viele Menschen benötigen medizinische Hilfe.» Eine Bürgerinitiative verteilt Essen. Weil der Bedarf so gross ist, bekommen an manchen Tagen nur Kinder und Frauen etwas. Der Aktivist Avni Asllani sagt: «Die Menschen brauchen viel mehr als ein Sandwich, aber leider sind unsere Mittel begrenzt.»




Das Areal rund um den Bahnhof Gevgelija hat sich zu einem Flüchtlingslager entwickelt. In Zelten übernachten Hunderte von Menschen, nur mit dem nötigsten ausgerüstet. (Bild: n-Ost/Marko Risović)

Gesichter voll Enttäuschung und Ungewissheit

An die Zukunft möchte Omar Kerem derzeit nicht denken. Im Moment geht es ihm wie Zehntausenden anderen Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak nur darum, über die sogenannte Westbalkan-Route in die EU zu gelangen.

Diese Reise führt über die Türkei, meist in der Gegend um Izmir, über den Seeweg auf eine griechische Insel. Einmal aufs Festland gelangt, kommen die Menschen anschliessend zu Fuss an die griechisch-mazedonische Grenze. Eigentlich müssten sie laut Gesetz in Griechenland bleiben, weil dies das erste EU-Land ist, das sie betreten haben. Doch weil die Zustände in dem Krisenland unzumutbar sind, darf kein Staat der EU sie dorthin zurückschicken.

Die Lage auf dem Bahnhof von Gevgelija ist inzwischen dramatisch: Weinende Kinder liegen auf dem Boden, die Gesichter der Erwachsenen erzählen von bitterer Enttäuschung und Ungewissheit.



Die Situation eskaliert am Bahnhof von Gevgelija, von wo t�glich Tausende von Fl�chtlingen versuchen mit dem Zug nach Serbien zu gelangen. bei Gevgelija. Derzeit wird die griechisch-mazedonische Grenze Grenze von der Polizei abgeriegelt, um weitere Fl�chtlingsstr�me zu verhindern. 21.08.2015 // The overcrowded train station at Gevgelija where thousands of refugees try to catch a train to Serbia. The greek-macedonian border at Gevgelija. At the moment the border is closed by the police in order to prevent further refugee masses.

Noch harmlose Szenen: Die Situation am Bahnhof eskalierte, nach dem das Militär die Grenze abriegelte. (Bild: n-Ost/Marko Risović)

Die 180 Kilometer – die durch das kleine Land führen – galten noch bis vor Kurzem als einer der gefährlichsten Abschnitte auf dem Weg in die Europäische Union. Nachdem mindestens 28 Menschen in Mazedonien starben, weil sie von Zügen erfasst wurden, ergriff die Regierung am 19. Juni Massnahmen, durch welche die Grenzen faktisch abgeschafft wurden. Auf Druck von Hilfsorganisationen ermöglichte der Staat Flüchtlingen Busse und Züge zu nutzen, nachdem man sich registriert hat. Nach der Registrierung bleiben den Flüchtlingen 72 Stunden Zeit, das Land zu verlassen.

Mit dieser Durchwink-Politik Mazedoniens schien es vergangenen Donnerstag vorbei zu sein. Das Land rief aufgrund der vielen Flüchtlinge den Ausnahmezustand aus. Das Militär rückte aus, um die Grenze zu Griechenland zu verteidigen und das Land abzuschotten. Mithilfe von Blendgranaten, Schlagstöcken und Tränengas wurde die Grenze zu Griechenland abgeriegelt. Dabei wurden mehrere Flüchtlinge verletzt.




(Bild: n-Ost/Marko Risović)




Die militärische Abschottung blieb nicht ohne Folgen: Manche Flüchtlinge sind beim Zusammenstoss mit dem Grenzschutz verletzt worden. (Bild: n-Ost/Marko Risović)

Die militärische Abschottung des Landes währte allerdings nur kurz. Bereits am Samstag wurden wieder schwangere Frauen und Familien mit Kindern über die Grenze gelassen. Hunderte, die nicht herüber gelassen wurden, durchbrachen einfach die Absperrungen. Inzwischen hat Mazedonien zugesichert, die Grenzen nicht wieder zu schliessen.

Der Zug ist überfüllt – ausser im Touristenwagen

Aber Mazedonien ist sowieso nur ein Zwischenhalt: Der Zug aus Gevgelija, der die Menschen an die serbische Grenze bringt, ist überfüllt. Die erste Familie, die den Zug betritt, kommt aus Idlib, dem Nordosten Syriens. Der Vater ist Röntgenologe, die Mutter arbeitete einst als Professorin an der Universität von Aleppo. Sie reisen gemeinsam mit ihren drei Kindern. Ihre Namen wollen sie nicht verraten.

Besorgt schaut der 45-Jährige aus dem Fenster und erzählt in bestem Englisch: «Unsere Stadt wurde überfallen, mein Klinikum zerstört. Ich hatte 20 Angestellte und eine Karriere. Jetzt habe ich nichts mehr.»

Der erste Waggon ist für Mazedonier und Touristen reserviert. Die Menschen hier haben es bequem. In den hinteren Waggons drängen sich müde Flüchtlinge. Die meisten nutzen die Zeit, um ein wenig zu schlafen, viele davon auf dem Boden.



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Mit einer gemütlichen Zugfahrt hat die Flucht nach Europa für die Flüchtlinge nichts zu tun: Eng gedrängt geht auf die 180 Kilometer lange Reise durch Mazedonien nach Serbien. (Bild: n-Ost/Marko Risović)

Auf der langen Flucht aus Syrien bilden sich Solidargemeinschaften. Damit die Familie aus Idlib es leichter hat, reisen sie gemeinsam mit einer Gruppe junger Männer, die inzwischen Teil der Familie geworden sind. Die Mutter erzählt: «Mit zwei kleinen Kindern und einem Baby brauchen wir jemanden, der uns hilft, den schwierigen Weg nach Europa zu schaffen.»

In den überfüllten Waggons weiss niemand, wie lange die Fahrt dauert. Nach sechs Stunden gibt der Kondukteur ein Zeichen: «Endstation». In den Gesichtern der Menschen kann man Furcht und Ungewissheit sehen. Kurz vor der serbischen Grenze müssen die Flüchtlinge den Zug verlassen.

Die Angst vor dem ungarischen Zaun

Die Türen öffnen sich, die Menschen drängen nach draussen und die Odyssee geht weiter. Vor Ort wartet die mazedonische Sektion des Roten Kreuzes und verteilt Sandwiches an die ankommenden Flüchtlinge, die nach der stundenlangen Fahrt hungrig sind.

Ahmet, ein junger Designer aus dem Irak, und seine Freunde verzichten auf das Sandwich und wollen sich nicht weiter aufhalten lassen. Ihr Ziel ist es, schnellst möglichst an die ungarische Grenze zu kommen und dort den Zaun zu überqueren, bevor die neue Grenzsicherung fertig gestellt wird.

Ahmet sagt: «Wir wollen es dorthin schaffen, bevor der Zaun fertig gebaut ist. Dort werden wir versuchen über die Grenze zu kommen.» Tausende warten an der Grenze zu Serbien auf die Fortsetzung ihrer Reise. Alleine in der Nacht zum Sonntag sind 7000 Flüchtlinge über die Grenze nach Serbien gekommen. Nicht immer bleiben da Familien zusammen: Wie Augenzeugen berichten und Bilder zeigen, sind viele Eltern von ihren Kindern getrennt worden, weil sie es nicht gemeinsam an den Sicherheitskräften vorbei geschafft haben. Die Sorge ist, dass Zehntausende Menschen in den völlig überforderten Staaten Serbien und Mazedonien stranden könnten, wenn Ungarn seine Grenzen dicht macht.




Solche Szenen sollen sich nicht häufen, die Gefahr besteht aber, sollte Ungarn seine Grenzen dicht machen und die Balkan-Staaten nicht dem Flüchtlingsandrang gewachsen sein. (Bild: n-Ost/Marko Risović)

Kommen die Flüchtlinge, klingeln die Kassen

Bevor der Weg sie weiter an die serbisch-ungarische Grenze führt, müssen sie sich in der serbischen Grenzstadt Presevo eine Aufenthaltsgenehmigung holen. Einer von ihnen zeigt mit der Hand Richtung Norden und sie verschwinden in der Dunkelheit. Von Presevo aus versuchen die meisten Flüchtlinge in den Norden Serbiens nach Subotica zu gelangen. Dort waren die Grenzen bis vor Kurzem kaum gesichert und Schmugglerrouten aus der Zeit der internationalen Sanktionen gegen Serbien wurden reaktiviert, um Menschen nach Ungarn zu bringen.

In den Parks Belgrads schlafen Flüchtlinge, während Schmuggler und Ladeninhaber an der serbisch-ungarischen Grenze das Geschäft ihres Lebens machen. Erst als Anfang dieses Jahres Zehntausende Kosovaren innerhalb kürzester Zeit illegal über Ungarn in die EU einreisten, wurden vermehrt Polizeikräfte an der Grenze eingesetzt.

Die ungarische Regierung baut einen 175 Kilometer langen Zaun an der Grenze zu Serbien, und sie hat die Arbeiten beschleunigt. Die Pläne der ungarischen Regierung haben sich herumgesprochen: die Chancen sinken, der Andrang wächst. Laut den Behörden am Bahnhof Gevgelija ist die Zahl Flüchtlinge innerhalb kürzester Zeit von 400 auf 2000 pro Tag gestiegen. Aber weder Mazedonien noch Serbien noch Ungarn sind das wirkliche Ziel. Die meisten Flüchtlinge wollen nicht bleiben, sie wollen nach Westeuropa.

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