Die Chancen auf ein Ende der Ukraine-Krise wachsen, in Berlin und Paris gibt es neue Gespräche zwischen Russland und dem Westen. Sie sind allerdings geprägt vom Syrien-Konflikt, der den Westen zu einem Kompromiss mit Russland bewegen könnte.
Wenn es um die Ukraine geht, dann regiert in Deutschland seit Ausbruch der Krise vor anderthalb Jahren nur ein Prinzip: das Prinzip Hoffnung. Hoffnung auf Frieden. Diese schwache, politisch längst ausgezehrte Hoffnung erhält nun neue Nahrung. Am 2. Oktober wollen sich die Staats- und Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine in Paris treffen, um «den Stand der Umsetzung der Minsker Vereinbarung zu erörtern», wie das deutsche Kanzleramt nach einer Telefonkonferenz der vier sogenannten Normandie-Verhandlungspartner mitgeteilt hat.
Hinter der dürren Formulierung könnte sich diesmal mehr verbergen als bei früheren Gesprächsversuchen. Bereits an diesem Samstag treffen sich die vier Normandie-Aussenminister zu Vorgesprächen in Berlin. «Die Chancen zu einer Lösung zu kommen, sind so gross wie noch nie seit Beginn des Konflikts», sagt der Russland- und Ukraine-Experte Stefan Meister dieser Zeitung, nicht ohne im gleichen Atemzug zu warnen: «Die Gefahr, dass der Westen mit Russland auf Kosten der Ukraine faule Kompromisse schliesst, ist ebenfalls so gross wie nie.»
Syrien-Konflikt erhöht Druck die Ukraine-Krise zu beenden
Der Hintergrund der Annäherung dürfte denn auch wenig mit der Ukraine selbst zu tun haben. Vielmehr dominieren die Krisen im Nahen Osten die internationale Politik mittlerweile derart stark, dass «der Druck enorm gestiegen ist, das Ukraine-Problem endlich vom Tisch zu bekommen», wie es Meister formuliert. Demnach haben der Krieg in Syrien, der IS-Terror, die labile Lage im Irak und in Libyen sowie nicht zuletzt der daraus resultierende Flüchtlingsstrom nach Europa in den Hauptstädten der EU wie auch in Moskau, vor allem aber in Washington absolute Priorität.
In diesen Kontext fügt sich auch der Wirbel um russische Militäraktionen in Syrien, der in den USA seit einigen Tagen die Alarmglocken läuten lässt. «Putin spielt ein Spiel», glaubt Meister und verweist auf direkte Gespräche zwischen Washington und Moskau auf Diplomatenebene. «Es gibt im Westen derzeit sehr viel Kompromissbereitschaft, ohne dass sich Russland bewegen müsste.»
Für die Ukraine könnte dies weitreichende Folgen haben, bis hin zur faktischen Aufgabe nicht nur der annektierten Krim, sondern auch der östlichen Gebiete Donezk und Luhansk, die seit mehr als einem Jahr von prorussischen Separatisten kontrolliert werden. Zweimal haben sich die Normandie-Verhandlungspartner im weissrussischen Minsk seither auf einen politischen Prozess geeinigt (siehe Kasten). Doch die Kämpfe zwischen der ukrainischen Armee und den von Moskau aufgerüsteten Separatisten gingen unvermindert weiter – bis vor Kurzem. Seit dem 1. September hält an der Frontlinie ein Waffenstillstand, und zwar «so gut wie nie zuvor», berichtet Meister, der sich derzeit in Kiew aufhält.
Der Waffenstillstand hält seit dem 1. September so gut wie nie zuvor.
Da ist es wieder, das Prinzip Hoffnung. Es nährt sich auch daraus, dass die Regierung in Kiew auf Druck aus Washington die Dezentralisierung der Ukraine vorantreibt. Verfassungsänderungen sollen dem Osten mehr Autonomie garantieren und die Abhaltung von Regionalwahlen in den Separatistengebieten ermöglichen, allerdings auf der Basis ukrainischen Rechts, wie Präsident Petro Poroschenko nach der Telefonkonferenz mit Merkel, Putin und Hollande ultimativ verlangte: «Die Durchführung von Pseudowahlen in den abtrünnigen Regionen Donezk und Luhansk würde den gesamten Verhandlungsprozess infrage stellen.» Darin sei er sich mit der deutschen Kanzlerin und dem französischen Präsidenten einig.
Meister hält dagegen: «Es ist keineswegs auszuschliessen, dass der Westen bei möglichen Wahlen im Osten bei den demokratischen Standards ein Auge zudrückt.» Putins Sprecher äusserte sich zu dem Wahlprozedere am Donnerstag zunächst nicht. Der Kreml verlangte stattdessen, die ukrainische Armee müsse endlich ihre schweren Waffen aus dem Konfliktgebiet abziehen. «Das würde die Bedingungen für eine wirtschaftliche Erholung der Donbass-Region verbessern.»
Innerpolitischer Konflikt schwächt die Verhandlungsposition der Ukraine
Unterdessen stösst der Verfassungsprozess in Kiew seit Wochen auf offenen Widerstand im eigenen Regierungslager, vor allem aber bei nationalistischen Kräften der ausserparlamentarischen Opposition. Erst vergangene Woche starben bei Krawallen in Kiew drei Menschen, als ein ultranationalistischer Demonstrant eine Handgranate auf die Sicherheitskräfte warf. Mehr als 140 Menschen wurden verletzt. Die Gewalt, das ist keine Frage, schadet der Ukraine und schwächt ihre Verhandlungsposition.
Meister hält die Ängste der Gegner des Verfassungsprozesses dennoch für «nicht völlig unbegründet». Der Status der Separatistengebiete bleibe in dem Gesetzesprojekt unklar. Zugleich gibt es keine Anzeichen dafür, dass Moskau seine Ukraine-Strategie einer Destabilisierung dauerhaft aufgeben könnte. «Die Wunden im Osten bleiben offen», erklärt Meister. Auch die Eroberung eines Landkorridors zur annektierten Krim bleibe eine Option. Dennoch könnte die Fortdauer der aktuellen Waffenruhe den Westen dazu verleiten, die Sanktionen gegen Russland mittelfristig zu lockern, vermutet Meister. Der französische Präsident Hollande hatte unlängst entsprechende Andeutungen gemacht.
Minsk II sieht eine Waffenruhe in der Ostukraine, den Abzug schwerer Artillerie, die Einrichtung einer Pufferzone, Kontrollen an der Grenze zu Russland, einen Gefangenenaustausch sowie Wahlen und mehr Autonomie in den Gebieten Donezk und Luhansk vor – alles unter OSZE-Beobachtung. Das Abkommen, dessen weniger detaillierter Vorläufer Minsk I vom September 2014 nie eingehalten wurde, läuft bis Ende 2015. Bislang ist keiner der in Minsk (II) vereinbarten Punkte dauerhaft umgesetzt worden.