Die Grenzen der Souveränität

Mit der Demokratie wurden gleichzeitig auch die Menschenrechte begründet. Beide bedingen einander: Die Demokratie begrenzt mit den Menschenrechten ihre eigene Macht.

Der Tod des franzoesischen Koenigs Louis XVI., enthauptet durch die Guillotine am 21. Januar 1793 auf dem Place de la Revolution, dem heutigen Place de la Concorde. (Bild: STR)

Mit der Demokratie wurden gleichzeitig auch die Menschenrechte begründet. Beide bedingen einander: Die Demokratie begrenzt mit den Menschenrechten ihre eigene Macht.

Es steckt ganz wörtlich im Zentrum der Demokratie: das Volk, der «demos». Und die «kratie» bedeutet Herrschaft, in der Demokratie eben die Volksherrschaft. Doch bedeutet die Demokratie auch die Allmacht des Volkes? Darf es unter seiner Herrschaft selber wirklich alles – so wie früher der «Souverän», der König, den das französische Volk ja unter anderem gerade als Folge dieser Allmacht stürzte?

Vielleicht haben Sie die frühere freisinnige Zürcher National- und Ständerätin Vreni Spoerry auch noch im Ohr. In den 1990er-Jahren pflegte sie jeweils am Radio und Fernsehen Volksentscheide knorrig-nasal mit dem Satz zu kommentieren, der «Souverän» habe nun entschieden. Punkt, Schluss. Als ob ein König, der alte «Souverän» vordemokratischer Zeiten, entschieden hätte.

Doch der Begriff des «Souveräns» ist irreführend. Das zeigt sich schon daran, dass dort, wo es im Unterschied zur Schweiz in vordemokratischen Zeiten, im «Ancien Régime» Frankreichs beispielsweise, tatsächlich einen König gab, heute nicht mehr vom Souverän die Rede ist. Denn das aufmüpfige französische Volk stürzte nach 1789 den König, köpfte ihn später sogar, erlag aber nie der Versuchung, sich an seine Stelle zu setzen. Es masste sich dessen Allmacht nicht an.

Unabhängige Menschenrechte

Das wird im bedeutendsten Dokument der Revolution, der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, die später jeder französischen Verfassung vorangestellt wurde, sehr deutlich. Zwar stellt die EMB fest, dass die Bürger – hier die «Nation» – der Ursprung der (Volks-)Souveränität und somit die einzige Quelle legitimer politischer Macht sind (Art. 3).

Doch gleichzeitig spricht sie allen Menschen Grundrechte, «Menschenrechte», zu, die unabhängig vom Willen der Nation gelten und auch von ihr zu achten seien. Ja, sie sagt ausdrücklich, dass der Zweck des Staates nicht etwa die Ermächtigung der Bürger, sondern «die Erhaltung der natürlichen und unveräusserlichen Menschenrechte» sind (Art 2). Im letzten Satz heisst es dort: «Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung.»

«Das Volk wird durch nichts anderes definiert als durch den Akt der gemeinsamen Verfassungsgebung».

Ingeborg Maus

Mit der Demokratie wurden also gleichzeitig auch die Menschenrechte begründet. Menschenrechte, die unabhängig vom demokratisch manifestierten Willen der Bürger gelten. Mit anderen Worten: Es gab nie Menschenrechte ohne Demokratie. Doch die Menschenrechte begrenzen gleichzeitig die Demokratie. Beide bedingen einander. Die Demokraten begrenzten mit den Menschenrechten gleichzeitig auch ihre eigene Macht.

Und wie steht es in diesem Zusammenhang mit «dem Volk», dem Subjekt der Demokratie, demjenigen Teil der Menschen, die nicht nur über die Menschenrechte verfügen, sondern auch direkt oder indirekt über die Gesetze bestimmen?

Auch hier hilft es, sich an der Aufklärung zu orientieren und sich so vor völkischen, nationalistischen oder vordemokratischen Irreführungen zu schützen. Mit den Worten der grossen deutschen Philosophin und Spezialistin für Immanuel Kant, Ingeborg Maus: «Volk war weder durch historisches Schicksal, schon gar nicht durch gemeinsame Abstammung, auch nicht durch das Territorium, nicht durch die Kultur oder die Sprache definiert, sondern durch nichts anderes als den Akt der gemeinsamen Verfassungsgebung.»

Ein Kind der Verfassung

Das Volk ist also ein Kind der Verfassung und nicht dessen Voraussetzung. Es umfasst all jene, die sich eine Verfassung geben beziehungsweise 1791 im revolutionären Frankreich oder 1848  in der modernen Schweiz eine Verfassung gegeben haben. Und in dieser Verfassung definieren sie auch, wer zu diesem ihrem Volk gehört. Alle Männer (1848) oder all jene, die ein Stück Land besitzen und Steuern bezahlen (USA, 1787), später dann auch alle Frauen, seit einigen Jahren auch alle Bürgerinnen und Bürger, die das 18. Altersjahr erreicht haben.

Diejenigen, die sich eine Verfassung gegeben haben oder diese erneuern, können bestimmen, wer dazu gehört und wer (noch?) nicht. Der Demos der Demokratie ist also Gegenstand der politischen Auseinandersetzung und deren Frucht. Wobei die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte auch hier ein richtungsweisendes Zukunftspotenzial aufweist. Wenn nämlich alle Menschen «gleich und frei sind und bleiben» (Art. 1), gleichzeitig aber jenen Gesetzen gehorchen, die sie sich direkt oder indirekt mitgegeben haben, dann heisst dies, dass langfristig zwischen Mensch und Bürger beziehungsweise Bürgerin kein Unterschied mehr gemacht werden können sollte.

Das heisst, jeder und jede sollte zum «Volkssouverän» gehören, welche Farbe ihre Pässe auch immer haben. Doch alle müssen sich bewusst sein, dass ihre Souveränität wie jegliche Macht durch die Menschenrechte und weitere Bestimmungen der von ihnen mehrheitlich angenommenen Verfassung begrenzt sind. Zwei Mosaiksteine unseres Gesamtkunstwerks, denen es derzeit nicht besonders gut geht.

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