Wie kommen Menschen mit Handicap im Alltag zurecht? Wie behindertenfreundlich sind Bauten, Strassen und öffentliche Verkehrsmittel in Basel? Ein E-Mail-Austausch zwischen der Rollstuhlfahrerin Sonja Häsler und dem Fussgänger Christoph Meury.
An: Sonja Häsler
Von: Christoph Meury
Betreff: Handicap im Alltag
Seit ich mich mit dem Thema Mobilität, besonders mit der Mobilität für Menschen mit Handicap, beschäftige und mich mit Rollstuhlfahrern über ihre Situation unterhalte, sehe ich nur noch Schwellen, Treppen, Absätze, breite und unüberwindbare Zwischenräume. In die Lage einer Rollstuhlfahrerin oder eines Rollstuhlfahrers versetzt, erlebe ich den Alltag als einen grossen Hindernisparcours. Ich denke mir oft, dass ein Behinderter ein gewaltiges Mass an mentaler Stärke mitbringen muss, um die Hindernisse und Barrikaden im öffentlichen Raum zu umfahren oder zu überwinden.
Auch physisch sind die Rollstuhlfahrer enorm gefordert. Der öffentliche Raum scheint im Wesentlichen von Menschen konzipiert zu werden, die von einer Mobilität ausgehen, die in erster Linie den agilen Otto Normalverbraucher als Konsumenten und Benutzer im Auge hat: Dieser ist nicht behindert, fährt nicht Rollstuhl, ist nicht alt und auch kein Kind.
Der öffentliche Raum ist offensichtlich nur bedingt öffentlich. Er hat ein Zielpublikum vor Augen und schliesst einige Menschen unausgesprochen, aber explizit aus. Die Benutzung des öffentlichen Raumes ist an Grundvoraussetzungen in Bezug auf die eingeforderte Vitalität und Mobilität gebunden. Wer hier verkehrt, muss Treppen steigen können. Treppen und Schwellen dominieren den öffentlichen Raum.
Als Beispiel betrachten wir exemplarisch den Theaterplatz mit dem fröhlich ratternden Tinguely-Brunnen. Eine schöne grosse Treppe dominiert den Theaterplatz und verleiht dem Aufstieg zur Elisabethenkirche Grandezza und Erhabenheit. Gleichzeitig lädt die Treppe natürlich auch zum Sitzen und Verweilen ein und erinnert dabei an die Spanische Treppe in Rom. Super!
Selbst wenn man wagemutig ist und die Pläne umsetzt: Wie kann man wissen, dass dort nicht unüberwindbare Treppen sind? Ach ja, hierfür gibt es ja noch Google Earth. Und vor Ort ist dann doch wieder alles anders. Will ich dennoch ans Ziel kommen, so bleibt meistens nur der Griff zum Handy, um den Online-Stadtplan zu konsultieren. Einheimische fragen, das wäre auch noch eine Variante, wobei nicht immer hilfreich – welche Fussgänger kennen schon die Tücken für Menschen im Rollstuhl?
Eben zurück von meiner 14. Schweden-Reise, habe ich einmal mehr viele äusserst positive Eindrücke mit nach Hause genommen. An fast jeder Hausecke gibt es mindestens einen Rollstuhlparkplatz, der öffentliche Verkehr ist problemlos zugänglich, und sogar als Ausländerin bezahle ich kein Ticket, wenn ich mit einer Begleitperson unterwegs bin. Dass überall Aufzüge und Rampen installiert sind, ist genauso selbstverständlich, wie dass es nachts dunkel wird.
Ist nun Schweden anders – oder die Schweiz? Basel tickt ja bekanntlich anders und gerne auch etwas fortschrittlicher. Aber leider nicht in allen Belangen! Schade eigentlich für diese schöne Stadt, die so oft eine Vorreiterrolle in der Schweiz einnimmt. Wieso geht das nicht auch in Sachen öffentlicher Raum und Verkehr?
Anstatt Vollgas zu geben bei der Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes, versank die Region in einen fast zehnjährigen Winterschlaf. Jetzt wird die Zeit knapp, damit bis zur gesetzlichen Frist im Jahr 2024 der öffentliche Verkehr behindertentauglich wird. Mobile Faltrampen etwa würden schon heute vielen Betroffenen helfen, in die Sänften-Wagen der BVB und BLT zu kommen. Stattdessen müssen betroffene Menschen im Elektrorollstuhl, die zum Beispiel im Wohn- und Bürozentrum in Reinach wohnen, weitere zehn Jahre auf eine Lösung warten.
Unzumutbar, finde ich, zumal keine Informationen abgerufen werden können, zu welchen Abfahrtszeiten die Niederflurtrams verkehren. Aber nicht nur beim ÖV besteht dringender Handlungsbedarf. Auch viele Läden, Büros, Praxen und damit auch Arbeitsplätze sind immer noch nicht rollstuhlzugänglich. Dabei wäre das Problem oftmals mit einer kleinen Rampe zu lösen!
Jahr für Jahr wird es schwieriger, rollstuhlgängige Feriendestinationen in der Schweiz zu finden. (Bild: Stefan Bohrer)
ReRe: Handicap im Alltag
An: Sonja Häsler
Von: Christoph Meury
Schätzungsweise 60 000 Menschen sind in der Schweiz auf den Rollstuhl angewiesen. Ergo gelten für diese Rollstuhlfahrer für die alltägliche Mobilität andere Vorgaben und Notwendigkeiten als für den nichtbehinderten Fussgänger. Und die viel gepriesene Mobilität, als neues Synonym für Freiheit und Abenteuer, ist für zahlreiche Menschen im Alltag eher ein tägliches Survival-Training und der öffentliche Raum ein veritabler Hindernisparcours.
Das gilt auch für ältere Menschen. Die körperliche Beeinträchtigung wird im öffentlichen Raum oder im öffentlichen Verkehr als Handicap und als Defizit und immer häufiger auch als Ausschlusskriterium erlebt.
Können Sie sich vorstellen, liebe Leserinnen und Leser, permanent mit Apps und Spezialkarten durch die Gegend zu touren, um zu checken, ob Sie bei der Tramhaltestelle X zusteigen können oder nicht? Ein Desaster und für Sie als Fussgänger unvorstellbar. Nehmen wir eine x-beliebige Tramstrecke und stellen uns eine Alltagssituation vor: Bei der ersten Haltestelle steigen zwei befreundete Rollstuhlfahrerinnen ins Tram. Sie fahren zum Einkaufen in die Stadt. Danach steigen zwei Rentner mit Rollatoren dazu. Beim nächsten Stopp möchten noch zwei Familien mit Kinderwagen einsteigen. Das BVB-Niederflurtram bietet für diese «Spezialgäste» nicht genügend Zutrittsmöglichkeiten.
Der Elektrorollstuhlfahrer an der nächsten Haltestelle kann mit Sicherheit nicht mehr zusteigen und muss das nächste Tram abwarten. Damit kommt er zu spät zur Arbeit. Zudem ist der Tramchauffeur kurz vor dem Ausflippen, weil er mit diesem Andrang nicht gerechnet hat und weil er bei den Rollstuhlfahrerinnen jedes Mal aussteigen muss, um die Rampe von Hand auszuklappen – sofern es denn überhaupt eine hat. Der Fahrplan bricht zusammen. Fazit: Das Tram ist für die Zukunft nicht gerüstet. Zudem ist die Benutzung definitiv nicht barrierefrei eingerichtet. Das darf nicht sein.
Die Verantwortlichen haben es versäumt, ein öffentliches Nahverkehrsmittel für alle zu konzipieren. In ein paar Jahren kommen Hunderte von älteren Menschen mit Rollatoren dazu – und wir diskutieren öffentlich und ernsthaft, wie grün das grüne Tram sein darf und ob Holzsitze okay sind. Dieser Diskurs ist lächerlich angesichts der Notwendigkeit, Konzepte für einen öffentlichen Verkehr für alle zu entwickeln. Die Benutzbarkeit und Zugänglichkeit sind das Thema. Alle anderen Debatten sind Ablenkungsmanöver und Augenwischerei.
Rund 60 000 Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer wollen den ÖV benutzen. (Bild: Stefan Bohrer)
ReReRe: Handicap im Alltag
An: Christoph Meury
Von: Sonja Häsler
Eine Alternative zum ÖV gibt es ja noch, die Rollstuhl-Taxis, immer noch bekannt unter dem längst veralteten Namen «Tixi-Taxi». Doch ist das wirklich eine Alternative?
Früher ja, da waren die Preise noch bezahlbar, und die Anzahl Fahrten war uneingeschränkt. Nun, seit zirka zwei Jahren, wurde dieser Markt «liberalisiert». Mehrere Anbieter kämpfen um Kunden. Das müsste das Geschäft beleben und die Qualität steigen lassen, war meine Hoffnung. Doch bald war ich konsterniert: Zehn subventionierte Fahrten, also fünf Retourfahrten pro Monat, stehen den einzelnen Nutzern aktuell zur Verfügung. Fünf Retourfahrten pro Monat, das bedingt gerade zur Winterszeit, speziell über die Festtage, eine glasklare Planung und bringt noch viel mehr Verzicht mit sich. Und wehe die Familie wohnt irgendwo verstreut in der Region und feiert einzeln Feste!
Sonja Häsler ist im Berner Oberland aufgewachsen und wohnt seit über 16 Jahren in Basel. Die 37-Jährige arbeitet bei Procap Reisen & Sport in Olten, einem Netzwerk für Menschen mit Handicap. Häsler gewann 2011 im Rollstuhl-Badminton einen kompletten WM-Medaillensatz. Seit 2005 ist sie im Rollstuhl und engagiert sich regional und national in verschiedenen Gremien für Menschen mit Handicap. www.sonjahaesler.ch
Christoph Meury*
Aufgewachsen in der Agglomeration von Basel, machte Christoph Meury zuerst eine Ausbildung zum Sozialarbeiter und landete später über verschiedene Stationen beim Theater. Via Theater Basel, Kulturwerkstatt Kaserne, Theater- und Aktionshaus Stückfärberei und Theaterhaus Gessnerallee verschlug es den heute 60-Jährigen 1999 nach Birsfelden, wo er das Theater Roxy gründete und 18 Jahre (bis Herbst 2013) leitete. Parallel dazu engagiert er sich in verschiedenen Projekten wie Treibstoff Basel, den Tanztagen Basel sowie dem Theaterfestival Basel.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 17.01.14