Die grossen «Aber» im Paradies

Die TagesWoche fühlt den Puls der Stadt: Mit dem Kaffeemobil begibt sie sich bis Anfang September Wochenende für Wochenende in verschiedene Quartiere, um zu erfahren, wo die Baslerinnen und Baslern im Wahljahr der Schuh drükt. Erste Station: der Barfüsserplatz.

Freie Strasse: Die meisten Leute ärgern sich über das einseitige Angebot in der Shopping-Meile: Kleider, Kleider, nur Kleider. (Bild: Nils Fisch)

Die TagesWoche fühlt den Puls der Stadt: Mit dem Kaffeemobil begibt sie sich bis Anfang September Wochenende für Wochenende in verschiedene Quartiere, um zu erfahren, wo die Baslerinnen und Baslern im Wahljahr der Schuh drükt. Erste Station: der Barfüsserplatz.

Probleme, Anliegen? Der junge Mann hebt abwehrend die Hand. «Medien sind mir ein Graus», sagt er knapp, schiebt seine rote Umhängetasche auf den Rücken und geht an unserem Kaffee­mobil vorbei. Er steht schon fast an der Treppe zur Kirche am Barfi, als er plötzlich zögert. Er dreht sich um, nimmt die Sonnenbrille vom Gesicht und kommt zurück. «Wir haben es in Basel wirklich gut», beginnt er, «ein Anliegen habe ich aber …»

Wenn es eine Szene am 4. August bei unserem ersten Stopp der Wahl-Aktion «Wo drückt der Schuh?» gab, die sinnbildlich für unsere Erfahrungen war, dann dieses Zögern. Die meisten Baslerinnen und Basler sind nicht vorbeigekommen mit Listen voller Anliegen, Problemen oder Wünschen, von denen sie hofften, dass sie an Politiker herangetragen werden.

Vielleicht lag es daran, dass der Schweizer eben doch lieber die Faust im Sack macht, als seinen Ärger zu äus­sern. Vielleicht lag es aber auch einfach am Quartier. Die Innenstadt ist kein typisches Wohnquartier. Die meisten kommen her zum Einkaufen, Arbeiten oder – im Falle der Touristen – für das Sightseeing. Wer sich auf ein Gespräch einliess, der lobte zunächst Basel und die Innenstadt als Paradies.

Am Ende kam dann das «Aber». Ein Kritikpunkt folgte dem anderen. Viele richteten sich auf Basel im Allgemeinen: zu wenig Grünflächen, zu viel Abfall am Wochenende – vor allem am Rhein. Kritisiert wurde auch die Situation für Velofahrer. «Die Strassen sind teilweise in einem miserablen Zustand», schimpfte ein Rennvelofahrer. Er bange bei jedem Schlagloch um sein Fahrrad. Was auch fehle, sagte eine junge Frau, seien genügend Abstellplätze. «Nicht nur Parkplätze, sondern solche, bei denen man sein Fahrrad auch an einer Stange abschliessen kann.»

Die Kritik an der Innenstadt betraf vor allem eines: das einseitige Angebot der Geschäfte. «Die täglichen Besorgungen sind in dieser Innenstadt mit ihren unzähligen Kleider- und Schuhgeschäften zur Herausforderung geworden», sagte eine Dame. Es gebe keinen Metzger, keine Papeterie, keinen Haushaltladen. «Der Mensch braucht doch nicht nur Lumpen!»

Dieses Manko stellte unlängst auch die «Nutzerstudie Innenstadt» fest, für welche die Stadt 120 000 Franken ausgab. Heftige Kritik musste die Freie Strasse einstecken, und auch am vergangenen Samstag ergoss sich ein Schwall von Klagen über diese Shoppingstrasse in Basel. Mit ihren Verkaufsketten biete sie ein viel zu kleines Angebot. Ein Angebot zudem, das sich in nichts von dem in anderen Städten unterscheide.

Die Stadt soll nicht tot sein

Selbst die Vereinigung der Detailhändler in der Innenstadt ist nicht zufrieden. «Mit der Freien Strasse ist niemand zufrieden», sagte «Pro Innerstadt»-Geschäftsführer Mathias F. Böhm bei einem Spaziergang mit der TagesWoche durch die «Freie». Die Strasse soll in den nächsten Jahren komplett umgestaltet werden. Geplant sind Grünpunkte, Sitzgelegenheiten, ein neues Beleuchtungskonzept – und auch die erhöhten Gehwege sollen verschwinden.

Böhm wünscht sich die Freie Stras­se als «einen Ort zum Verweilen». Als einen Ort mit alteingesessenen Marken wie «Kost», neuen starken Marken und Restaurants. Es soll ein lebhafter Ort sein, aber kompatibel mit den Ansprüchen der Anwohner. «Vor allem aber», sagt Böhm, «soll die Stadt am Abend nicht einfach tot sein. Sie muss leben.»

Dass irgendwann die Ketten aus der Freien Strasse verschwinden, glaubt allerdings auch Böhm nicht: «Die ‹Freie› bleibt unsere Shoppingstrasse, wie es sie in jeder Stadt gibt.» «Pro Innerstadt» versuche Einfluss zu nehmen auf die Ladenstruktur, aber das sei nur bei Liegenschaften möglich, die noch in Basler Händen seien.

Versicherungen, Pensionskassen oder Immobilienfirmen versuchten möglichst hohe Renditen zu erzielen, und das bedeute, dass sie jenen Geschäfte vermieten würden, die am meisten zahlten. «Das Ganze ist eine Spirale von Angebot und Nachfrage, in der die Preise nach oben gehen.» Die Nachfrage ist inzwischen so gross, dass oft langjährigen Mietern Geld geboten wird, wenn sie ihre Mietverhältnisse auflösen und neuen, besser zahlenden Mietern Platz machen, wie Böhm sagt. Die steigenden Mietpreise bereiten nicht nur den langjährigen Ladenbesitzern Sorge. Ob jung, alt, Innenstadt-Bewohnerin oder Quartier-Bewohner – die steigenden Mieten beschäftigten eigentlich alle, die am Samstag vorbeikamen.

Die meisten fühlen sich sicher

Die Geschäftsleiterin des Mieterverbandes Basel und BastA!-Grossrätin Patrizia Bernasconi erstaunt das nicht. «Die Leute sehen, dass sich die Quartiere verändern. Leere Wohnungen werden seltener, die Preise höher.» Gerade langjährige Mieter würden diese Entwicklung mit Sorge beobachten. Die Mieten seien in den letzten zehn Jahren massiv gestiegen, sagt Bernasconi. «Wer nun die Wohnung wechseln will, findet kaum noch etwas zum bisherigen Mietpreis.»

Hinzu kommt, dass die Liegenschaften aus den Bauboom-Jahren von 1960 bis 1970 nun vermehrt saniert werden. Und nach Sanierungen werden nicht nur die Kosten für wertvermehrende Investitionen oder für die energetische Verbesserung an die Mieter überwälzt, sondern die Mieten oft gleich auch noch an den Marktpreis angepasst, sagt Bernasconi. «Wir haben Fälle, bei denen nach Sanierungen der Mietzins um bis zu einem Drittel stieg.» Und die Sorgen über die steigenden Mietzinsen dürften nicht so schnell verschwinden: Der Mieterverband stellt eine steigende Zahl von Kündigungen fest.

Während die Baslerinnen und Basler um ihren günstigen Wohnraum bangen, spricht kaum jemand das Thema Sicherheit an. Und wenn, dann sind es Frauen. «Ich fahre häufiger Taxi als früher», sagte eine 36-Jährige. Die vermehrten Übergriffe auf Frauen, über welche die Medien berichten, machen ihr Sorgen, aber wirklich unsicher fühle sie sich nicht. Eine Dame aus Oberwil sagte, dass sie um ihre Tochter im Kleinbasel fürchte. «Man liest ja so viel von der Kriminalität dort», sagte sie. Ihre Tochter sei aber unbeeindruckt. «Sie fühlt sich wohl und sicher.»

Der junge Mann übrigens, der als Erster vorbeikam und dem dann doch noch ein Anliegen in den Sinn kam, fasste dieses in einem Wort zusammen: «Nachhaltigkeit!» Die Politiker werden sich freuen. Ein Begriff nach ihrem Geschmack.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 10.08.12

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