1955 weigerte sich die Afroamerikanerin Rosa Parks, ihren Busplatz einem Weissen zu überlassen. Damit wurde sie zu einem amerikanischen Mythos. Am 4. Februar wäre sie 100 Jahre alt geworden.
Das Jahr 2013 beginnt gut für die Schwarzen Amerikas, schreibt «Vibe», das Magazin für afroamerikanische Popkultur. Barack Obama ist für seine zweite Amtszeit als Präsident vereidigt worden. Jamie Foxx bringt als ehemaliger Sklave in «Django Unchained» die weissen Ausbeuter um. Und Rosa Parks erhält eine Statue im Kapitol in Washington. Als erste afroamerikanische Frau.
Dort, in der National Statuary Hall, hat jeder Bundesstaat der USA Platz für zwei Statuen, um die Grossen seiner Geschichte zu ehren. Parks’ Statue kommt aus Alabama. In der Hauptstadt Montgomery wohnte und arbeitete sie, und als sie am Abend des 1. Dezembers 1955 nach ihrem Arbeitstag als Näherin in den Bus stieg und sich auf eine Bank setzte, begann ihre Mythengeschichte, eine der grossen amerikanischen Erzählungen über Freiheit und Gleichheit, die das Ende der Rassendiskriminierung in God’s Own Country einleitete.
Die Rassenpolitik im Alabama der 50er-Jahre – und in anderen Südstaaten der USA – sah für den öffentlichen Verkehr Folgendes vor: Die vorderen Reihen waren den Weissen vorbehalten, der hintere Teil den Schwarzen. Weil die Schwarzen aber drei Viertel im öffentlichen Personenverkehr von Montgomery ausmachten, standen ihnen auch die Sitze in der Busmitte offen, ausser ein Weisser setzte sich hinzu. Dann mussten sie die ganze Reihe räumen und im hinteren Teil des Busses stehen.
Drei Männer gehorchten
Und so geschah es an diesem Abend des 1. Dezember 1955: Nach drei Stationen stieg ein Weisser hinzu und beanspruchte eine Sitzreihe in der Mitte, und der Fahrer rief vier Schwarze auf, die Plätze zu räumen. Drei Männer gehorchten und rückten nach hinten. Rosa Parks nicht. In ihrer Autobiografie «My Story», erschienen 1999, schreibt sie: «Ich war nicht körperlich müde oder erschöpfter als nach anderen Arbeitstagen. Nein, ich war es nur müde, ständig nachzugeben.»
Sie blieb sitzen, der Busfahrer rief die Polizei, Parks wurde verhaftet und vier Tage später zu einer Busse von zehn Dollar zuzüglich vier Dollar Verfahrenskosten verurteilt. Als das Urteil bekannt wurde, begann der Busboykott von Montgomery. Die afroamerikanische Bevölkerung solidarisierte sich mit Parks und bildete Fahrgemeinschaften oder ging zu Fuss, um den öffentlichen Verkehr zu meiden, und schwarze Taxichauffeure transportierten ihre Kunden für den Pauschalpreis von zehn Cents, für den Wert einer Busfahrkarte.
Am Nachmittag desselben Tages, dem 5. Dezember, gründeten die Organisatoren des Boykotts die Montgomery Improvement Association mit dem Ziel, die Beziehung zwischen dem weissen und schwarzen Amerika zu verbessern und gleiche Bürgerrechte einzufordern. Ihr gewählter Vorsitzender, ein junger Pastor, der erst vor Kurzem hierher gezogen war, sollte abends in der überfüllten Holt Street Baptist Church die Gründungsrede halten. Er beendete seine Rede, die er nur zwanzig Minuten zuvor mit wenigen Stichworten hingekritzelt hatte, mit den historisch weitsichtigen Sätzen: «Die Geschichtsschreiber künftiger Generationen werden einmal sagen: Da lebte ein Menschenschlag, eine schwarze Bevölkerungsgruppe, die den moralischen Mut hatte, sich für ihre Rechte zu erheben. Und dadurch gab sie den Zeitläufen der Geschichte und der Zivilisation eine neue Bedeutung.»
Der Name des jungen Pastors war Martin Luther King. Mit Parks und King stieg an diesem 5. Dezember 1955 «die Mutter aller Bürgerrechtsbewegungen» aus der Taufe, die zum Vorbild vieler sozialer Bewegungen weltweit werden sollte, sagt Manfred Berg, Lehrstuhlinhaber für amerikanische Geschichte an der Universität Heidelberg. Tatsächlich hielt der Busboykott über ein Jahr, bis im Dezember 1956 der Oberste Gerichtshof der USA die Rassentrennung im Nahverkehr verbot. Das Urteil hatte Signalwirkung: 1964 verabschiedete der US-Kongress den Civil Rights Act, der Rassentrennung und Diskriminierung im gesamten öffentlichen Leben der USA untersagte, ein Jahr später sicherte der Voting Rights Act das gleichberechtigte Wahlrecht für alle Amerikanerinnen und Amerikaner, unabhängig von der Hautfarbe.
Fortsetzung der Saga
Damit war aus Sicht des weissen Establishments das Versprechen der amerikanischen Gründerväter von Freiheit und Gleichheit eingelöst. Mit dem Ende der institutionalisierten Rassentrennung, so schien es, hatte Amerika die offenkundigste Abweichung von seinem historischen Selbstverständnis als Speerspitze der Freiheit und Demokratie überwunden und die Saga vom «American Exceptionalism» fortgeschrieben.
Martin Luther King, der mit dem Busboykott in Montgomery zur nationalen Führungsfigur der Bewegung aufstieg und 1968 ermordet wurde, erhielt von Präsident Jimmy Carter 1977 postum die Presidential Medal of Freedom verliehen, die höchste Auszeichnung der USA für Zivilpersonen. Rosa Parks erhielt die Freiheitsmedaille 1996, und als sie 2005 im Alter von 92 Jahren verstarb, wurde ihr Leichnam vor der Bestattung öffentlich im Kapitol aufgebahrt. Sie ist die erste Frau in der Geschichte der USA, der diese Ehre zuteil wurde.
Da hatte der Mythos um Parks und die Bewegung, der sie angehörte, längst die Historie überlagert. «Parks hat zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte eine wichtige Rolle gespielt, die persönlichen Mut erforderte. Das soll nicht vergessen werden», so Berg. Die säkulare Heiligenverehrung, die in den letzten Jahrzehnten ihres Lebens einsetzte, täusche jedoch über ihre historische Rolle hinweg: «Rosa Parks verkörpert als Heldin das typisch amerikanische Narrativ von der Einzelperson, die mit einem mutigen Akt die Geschichte verändert.» Dies machte sie zur nationalen Identifikationsfigur, auf die sich schwarze wie weisse Amerikaner berufen konnten.
Ihr Sitzprotest während der Busfahrt war aber keineswegs eine spontane Tat zivilen Ungehorsams, als die sie in die nationale Erinnerungskultur eingegangen ist, sondern wurde von der Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) geplant, für die Parks seit 1943 als Sekretärin arbeitete. Parks, eine Dame mit untadeligem Ruf, galt als ideale Besetzung, um aus ihrer absehbaren Verhaftung eine aufsehenerregende Boykottaktion zu lancieren.
Umfassende Chancengleichheit
Die Heldenverehrung, die Parks später ereilen sollte, war damals noch nicht absehbar, überblendet jedoch die politische Radikalität der Bürgerrechtsbewegung zu grossen Teilen. «Der Bewegung ging es nicht nur darum, getrennte Sitzbänke abzuschaffen», sagt Manfred Berg, sondern auch um gesellschaftliche und ökonomische Chancengleichheit. In den 1950ern, als Amerikas Wirtschaft eine Phase der Prosperität erlebte und der jungen Generation alle Türen für eine bessere Zukunft offenstanden, verlangten auch die Afroamerikaner ihren Anteil am Wohlstand und an der politischen Macht.
Die Abschaffung der Rassentrennung und formale Gleichstellung allein änderten noch nichts an wirtschaftlicher Benachteiligung und sozialer Ungleichheit und garantierten keinen Zugang zu guten Jobs und höherer Bildung. Der Kampf der Bürgerrechtsbewegung gegen Ausbeutung und für eine soziale Transformation, der bis heute andauert, ist in der US-Gesellschaft weit weniger konsensfähig als der Mythos von Rosa Parks als einer mutigen Frau, die sich weigerte, ihren Sitzplatz für einen Weissen zu räumen.
Wie bedeutsam die heroische Überhöhung und Entrückung im populären US-Geschichtsbild auch 2013 noch wirkt, zeigt sich im Hollywoodkino, der produktivsten Raffinerie amerikanischer Nationalmythen. Steven Spielberg hat mit «Lincoln» einen Präsidenten geschaffen, der als Fels im Sturm des Bürgerkrieges humanistische Ideale hochhält und im Geist des Gleichheitsideals die Sklaverei abschaffen will, wider den Widerstand in Kongress, Militär und eigener Familie.
In «Lincoln» verdienen sich die schwarzen Sklaven ihre Freiheit, indem sie loyal für den Präsidenten kämpfen. Die Geschichte formt indes der Held, auch bei Spielberg, auch hier im Dienst der höheren Mission der Gerechtigkeit. Dass die Sklaverei und der folgende Backlash der diskriminierenden «Reconstruction» nicht bloss moralische Ausrutscher waren in der amerikanischer Heilsgeschichte, sondern im Gegenteil konstitutiv für den Aufstieg der Staatenunion zur Wirtschafts- und Weltmacht wirkten, wird dabei unterschlagen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 01.02.13