Lange liess die türkische Regierung die islamistischen Terroristen im Grenzgebiet zu Syrien gewähren, unterstützte sie womöglich sogar aktiv. Nachdem die Dschihadisten nun auch zu einer Bedrohung für die Türkei werden, setzt in Ankara ein Umdenken ein. Die Türkei sucht wieder mehr den Schulterschluss mit dem Westen, analysiert unser Korrespondent.
Es war eine Randnotiz, von der auch viele türkische Medien nur kurz Notiz nahmen: Die Türkei verhandelt jetzt mit Frankreich über die Lieferung von Luftabwehrraketen, nachdem die Verkaufsgespräche mit einem chinesischen Lieferanten offenbar gescheitert sind. Das verriet der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Reportern auf dem Rückflug vom Nato-Gipfel in Cardiff.
Die Absicht der Türkei, Langstreckenraketen in China zu kaufen, hatte bei den Bündnispartnern im vergangenen Jahr grosse Irritation ausgelöst. Dass die chinesischen Waffensysteme nicht mit der Nato-Technik kompatibel sind, störte Erdogan nicht. Er wollte die Unabhängigkeit seines Landes vom Westen demonstrieren.
Dass die Türkei nun doch mit dem französisch-italienischen Konsortium Eurosam über den Drei-Milliarden-Euro-Auftrag verhandelt, ist offenbar Teil eines generellen Kurswechsels. Es dürfte kein Zufall sein, dass Erdogan das Raketenthema auf dem Rückflug von Cardiff ansprach. Denn auf dem Nato-Gipfel sei der neu gewählte türkische Präsident wegen seiner fragwürdigen Politik gegenüber der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) gehörig unter Druck geraten, berichten Diplomaten.
Tatsächlich müssen Erdogan und sein früherer Aussenminister Ahmet Davutoglu, der jetzt als Premier fungiert, ihre Aussenpolitik insgesamt überdenken. Sie wollten die Türkei zur Führungsmacht der Sunniten im Nahen Osten machen. Zu dieser Strategie gehörten der enge Schulterschluss mit der ägyptischen Muslimbruderschaft sowie der radikal-islamischen Hamas, der Bruch mit Israel und der angestrebte Sturz des Assad-Regimes in Syrien.
Dabei setzte die Türkei auf zweifelhafte Verbündete. Sie gewährte den sunnitischen Dschihadisten nicht nur freies Geleit über die syrische Grenze und ermöglichte die medizinische Versorgung verwundeter Kämpfer in türkischen Hospitälern. Die Terrormiliz konnte auch in der Türkei ungestört neue Kämpfer rekrutieren und nach Syrien einschleusen.
Grenzwächter drückten die Augen zu
Überhaupt drückten die türkischen Kontrolleure an der Grenze beide Augen zu, offenbar auf Weisung aus Ankara. So schätzt der türkische Oppositionsabgeordnete Mahmut Tanal, dass der Islamische Staat täglich rund 4000 Tonnen Dieseltreibstoff in die Türkei schmuggelt. Die erlösten Gelder bleiben zum Teil in der Türkei, um dort Rekrutierungen zu finanzieren.
Auch wenn Ankara es energisch dementiert: Sogar für türkische Waffenlieferungen an den IS gibt es belastbare Indizien. So wurden Polizei- und Zollbeamte, die Anfang Januar gewagt hatten, Lastzüge mit mysteriösen «Hilfslieferungen» an der Grenze zu Syrien zu kontrollieren, sofort strafversetzt. Zwischen Lebensmitteln hatten die Kontrolleure Raketen, Munition und Militärelektronik entdeckt. Hinter den Transporten werden der türkische Geheimdienst und eine regierungsnahe Stiftung vermutet.
Hinter den Waffen-Transporten werden der türkische Geheimdienst und eine regierungsnahe Stiftung vermutet.
Die IS-Miliz zeigte sich aber wenig erkenntlich. Im Juni stürmten Dschihadisten das türkische Konsulat im nordirakischen Mosul und nahmen 49 Geiseln. Spätestens das war ein Weckruf für Ankara. Die Vorstellung, dass die Terrormiliz schon bald die Grenzen der Türkei zum Irak und Syrien kontrollieren könnte, wird nun selbst Erdogan unbehaglich. So schloss er sich beim Nato-Gipfel der von zehn Staaten gebildeten «Kern-Koalition» gegen den Islamischen Staat an.
An der Grenze zu Syrien wurden die Kontrollen bereits erheblich verschärft, die IS-Kämpfer können nicht mehr nach Belieben gehen und kommen. Ob die Türkei willens und in der Lage ist, auch den lukrativen Treibstoffschmuggel zu stoppen, muss sich noch zeigen.
Der Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas denkt schon viel weiter: Er schlägt vor, die Türkei solle die von ihr als Terrorgruppe eingestufte Kurdenorganisation PKK mit Waffen versorgen, damit sie im Nordirak besser gegen den Islamischen Staat kämpfen könne. So weit wird Erdogans Kurswechsel aber wohl vorerst nicht gehen.
Sucht die Nähe zum Westen: Erdogan weicht von seinem bisherigen Kurs ab und sucht wieder mächtige Verbündete. (Bild: LARRY DOWNING)