Europa und die Schweiz könnten mehr Hilfe leisten und Flüchtlinge aufnehmen, als dies derzeit der Fall ist. Doch das Können hängt vom Wollen ab.
Europa und – leicht abgestuft – die Schweiz scheinen angesichts der Flüchtlingsdramen im Mittelmeer etwas aufgeschreckt zu sein. Der Schrecken funktioniert nach dem bekannten Muster, dass dichte Ereignisse mehr schockieren als schleichende Prozesse: 800 Ertrinkende auf einmal erreichen uns eher als 800 über Wochen und Monate verteilte Migrationsversuche mit tödlichem Ausgang. Dies, obwohl es für das einzelne Opfer keinen Unterschied macht, ob es im Alleingang oder einsam im Kollektiv umkommt.
Die Frage, was wir konkret tun müssen und tun können, hat durch die Geballtheit der tragischen Vorkommnisse aber eine Verschärfung erfahren. Man kann sich ihr schlecht entziehen – es sei denn mit temporärer Scheinheiligkeit: mit zur Schau gestellten Schweigeminuten und etwas mehr Geld und Schiffen, aber mit keiner Änderung des fragwürdigen Gesamtverhaltens.
Geblieben sind auch die Fragen grundsätzlicher Art, die wir besser oder schlechter beantworten können. Eine der sich schnell stellenden Fragen lautet, was wir tun sollen, wenn wir wissen, dass wir das «ganze» Problem ohnehin nicht lösen können. Diese Art des Fragens begünstigt die Resignation und die Bequemlichkeit, das heisst, selbst punktuell überhaupt nichts zu tun, weil das Phänomen endlos ist.
Der Wohlstand wird ungern geteilt
Das hatte man schon früher, zum Beispiel während des Zweiten Weltkriegs. Die kleine Zahl aufgenommener Flüchtlinge wurde und wird auch heute noch damit gerechtfertigt, dass man ja «nie alle» hätte retten können. Auch wenn das Total der Hilfsbedürftigkeit kein Mass sein kann, gibt es durchaus eine Messgrösse für die Hilfeleistungen: Es sind dies unsere eigenen Möglichkeiten, es ist dies der Blick auf das, was uns zumutbar erscheint und was eine unakzeptable Zumutung ist. Rot-Kreuz-Präsidentin (und ehemalige Bundeskanzlerin) Annemarie Huber-Hotz erklärte, die Schweiz könne 80’000 aufnehmen statt der bisher 500 plus allenfalls 3000. Das Können hängt freilich vom Wollen ab.
Wieso gerade 80’000 und nicht etwas mehr oder weniger? Es ist eine Grössenordnung, sie ist aber nicht einfach aus der Luft gegriffen, sie hat zwei Bezugsgrössen: Zum einen die bereits aufgenommenen 80’000 Flüchtlinge, die ohne unerträgliche Belastung in unserem Land leben. Zum anderen – hier setzt ein gutes historisches Argument ein – die sogar 90’000 internierten Soldaten der Bourbaki-Armee, die im Winter 1871 aufgenommen und innert weniger Tage auf das ganze Land verteilt wurden.
Die Abwehr von Flüchtlingen ist ein zentraler Nebenschauplatz der nicht so leicht möglichen Abwehr von wirtschaftlich bedingter Zuwanderung.
Warum war damals so etwas offensichtlich eine Selbstverständlichkeit und ist es heute nicht mehr? Dazu gibt es viele Antworten: Sicher hindert uns paradoxerweise der inzwischen erreichte und ungern mit anderen geteilte Wohlstand an einer entsprechenden Hilfsbereitschaft. Im Weiteren sind wir nicht in der Lage, Fluchtmigration und Arbeitsmigration auseinanderzuhalten. Die leichter möglich erscheinende Abwehr von Flüchtlingen ist oft ein zentraler Nebenschauplatz der gar nicht so leicht möglichen Abwehr von wirtschaftlich bedingter Zuwanderung.
Etwa gleichzeitig mit den Zahlen zum Mittelmeerdrama ereilte uns die Zahl des Migrationssaldos für 2014. Auch da sind es beinahe 80’000. Trotz der Masseneinwanderungsinitiative oder teilweise gerade ihretwegen («solange man noch kann») wanderten im vergangenen Jahr netto rund 79’000 Ausländerinnen und Ausländer ein.
Huber-Hotz verwies aber auf die Proportionen: 80’000 aus akuter Notlage «provisorisch» aufgenommene Flüchtlinge, das entspreche zwei Prozent der ausländischen Bevölkerung und das sei «eine verschwindend kleine Zahl.» Zur Beruhigung schob sie ein Wort zur Erfahrungstatsache nach: «Im Balkankonflikt war die Schweiz damit erfolgreich. 90 Prozent der vorläufig Aufgenommenen gingen wieder zurück.»
Vorbildlich gilt als dumm
Auch diesbezüglich kann man an den Zweiten Weltkrieg erinnern. Die engen Begrenzungen im angeblich «vollen Boot» wurden nicht wegen der momentanen Kapazitäten vorgenommen, sondern um eine unwillkommene Zunahme der Dauerbevölkerung nach dem Krieg zu vermeiden. 1945 konnte man dann allerdings erstaunt und fast ein wenig beleidigt feststellen, dass viele Flüchtlinge gar nicht in der Schweiz bleiben wollten.
Im Falle der Bourbaki-Soldaten erleichterte die von Anfang bestehende Gewissheit, dass diese nur Gäste auf Zeit waren, die Aufnahmebereitschaft. Die Hilfe wurde aber auch im Bestreben betrieben, vor sich selber und vor der Welt eine vorbildliche Nation zu sein. Dieses Bedürfnis hat sich inzwischen zurückgebildet. Jetzt schielt man besorgt nach links und rechts, weil man mit seiner Humanität nicht «attraktiv» sein und nicht zu den Dummen gehören will, die mehr leisten als andere.
Dass die Rettung von Flüchtlingen zusätzliche Flüchtlinge auf den Weg brächte, wird in der Schweiz gerne erzählt.
Es ist oder wäre sicher richtig, wenn sich Europa (EU und Nicht-EU) zu einem gemeinsamen Konzept mit abgestimmten Kontingenten und Kriterien durchringen könnten. Am EU-Gipfel der letzten Woche war von einem «Pilotprojekt» für die Aufnahme von 5000 Flüchtlingen die Rede – Aufnahme, wohlgemerkt, auf freiwilliger Basis. Während Libanon und Jordanien drei Millionen Flüchtlinge beherbergen, hat die ganze EU fünf Mal weniger Asylaufnahmen (600’000) und gibt es unter den Mitgliedern grosse Unterschiede in der Aufnahmebereitschaft.
Der Schweizer Beat Schuler, Chef der Rechtsabteilung des in Rom domizilierten Regionalbüros des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR), bezeichnete das Format von 5000 als lächerlich und schlug zwanzig Mal mehr, 100’000, vor, was im Durchschnitt für jedes EU-Mitglied 3500 Flüchtlinge bedeuten würde.
Schuler widersprach im Übrigen der auch in der Schweiz gerne nachgeplapperten These, dass die Rettung von Flüchtlingen nur zusätzliche Flüchtlinge auf den Weg brächte und die Retter dann für den Ertrinkungstod derjenigen verantwortlich seien, die nicht gerettet werden könnten. Als Ende Oktober 2014 die gut ausgestattete Operation «Mare Nostrum» durch die nur dürftige Operation «Triton» ersetzt und der Flüchtlings-«Service» stark abgebaut wurde, nahm der Flüchtlingsstrom nicht ab.
Polemik gegen Afrikaner
Wer sich das antun will, kann sich das jüngste Wort zum Sonntag des BaZ-Chefs zu Gemüte führen. Man wird da höchst Widersprüchliches vorfinden, etwa dass die Fluchtmotivation mit dem Anstieg der Wohlstandsniveaus der Herkunftsländer zunehme, aber auch, dass die grösste Gruppe aus Eritrea komme. Wie passt das zusammen?
Im Human-Development-Index der UNO figuriert Eritrea auf dem 182. von 187 Rängen. Und auf der Weltbank-Rangliste der Pro-Kopf-Einkommen bildet Eritrea als zweitärmstes Land fast das Schlusslicht. Unter völliger Ausblendung des aktuellen Syrien-Dramas nutzt der Chefredaktor des Blocher-Blatts den Moment, um unter Berufung auf die «Weltwoche» einmal mehr gegen die vielen Afrikaner zu polemisieren, die ihrem «weniger behaglichen Leben» entfliehen wollten.
Von gleicher Seite wird gegen die Justizministerin Simonetta Sommaruga polemisiert: «Frau Ratlos» könne nur «Fragmente der Hilflosigkeit» vorbringen. Ihr wird vorgeworfen, dass sie keine starken Rezepte vorbringt, wenn es diese nicht gibt. Andere Vorschläge zeugen leider weniger von Ratlosigkeit und sehen die Lösung einzig in der Bekämpfung der Schlepperbanden und denken an Lösungen, die militärischen Fantasien entspringen.
Wir erinnern uns an die Ablehnung in Hölstein vom November 2014.
Die Schweiz kann sich im Vergleich zu den Flüchtlingsleistungen der EU sehen lassen. Es gibt zwar einige Länder, die prozentual noch mehr Flüchtlinge aufgenommen haben (etwa Schweden, Ungarn, Österreich); andererseits gibt es Länder mit ganz niedrigen Flüchtlingszahlen (etwa Portugal, Spanien oder die baltischen Staaten). Aber die Schweiz kann noch mehr tun, gemessen am objektiven Bedarf und, wie gesagt, an den eigenen materiellen Möglichkeiten.
Die knappste Ressource im eigenen Land ist jedoch die konkrete Hilfsbereitschaft einzelner Gemeinden. Wir erinnern uns an die Ablehnung in Hölstein vom November 2014. Und wir haben gehört, dass im freiburgischen Giffers gegen ein Asylzentrum für 300 Menschen Sturm gelaufen wird und der Gemeindepräsident von einem «Asylanten-Tsunami» gesprochen hat.
Etwas scheinheilig wird die Fremdenabwehr damit gerechtfertigt, dass die Vorgehensweise des Bundes unakzeptabel sei. 2013 hatten wir in Aargauer Städten angesichts eines Zentrums für 150 Flüchtlinge einen ähnlichen Aufstand. Inzwischen hat er sich als ungerechtfertigter Sturm im Wasserglas erwiesen.