Die Krise hat alles verändert. Jeder kann der Nächste sein.

Die Schuldenkrise stürzt immer mehr Griechen in Arbeitslosigkeit, Armut und Obdachlosigkeit. In die bevorstehenden Neuwahlen setzt kaum jemand Hoffnung.

(Bild: Myrto Papadopoulos)

Die Schuldenkrise stürzt immer mehr Griechen in Arbeitslosigkeit, Armut und Obdachlosigkeit. In die bevorstehenden Neuwahlen setzt kaum jemand Hoffnung.

Es ist ein warmer Juninachmittag. Giorgos Barkouris (siehe Bildergalerie) geniesst die griechische Sonne. Nicht an einem vielbesuchten Strand, sondern direkt an den Gleisen im verkommenen Athener Stadtteil Kerameikos.

Der studierte Computertechniker mit grau melierten Haaren dreht sich eine Zigarette und erinnert sich an sein früheres Leben, als er noch einem Versicherungsjob nachging. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise ist es rasend schnell abwärtsgegangen: Job weg, kein Lohn am Monatsende, kein Geld mehr für die Miete. Nach einem Jahr lief seine Arbeitslosenhilfe aus, seither sitzt der Informatiker auf der Strasse.

Ein IT-Experte im Obdachlosenheim

«Es war unmöglich, als freier IT-­Experte bezahlte Arbeit zu kriegen», sagt Barkouris. «Letztes Jahr bekam ich nur zwei Aufträge. Ich habe auch eine Internet-Radiostation mitaufgebaut, warte aber immer noch auf mein Geld», klagt der 60-Jährige.
Zuflucht fand Barkouris im Obdachlosenheim der Bürgerinitiative Klimaka an den Gleisen von Kerameikos. Im graffitibeschmierten Haus darf er länger bleiben, wenn er im Gegenzug Freiwilligenarbeit leistet.

Seit 2001 bietet Klimaka den Obdachlosen Notübernachtung und warmes Essen. Es ist die einzige Hilfsorganisation dieser Art in einem Land, in dem Obdachlose statistisch nicht ­erfasst werden – als würden sie nicht existieren. «Viele Griechinnen und Griechen glauben, dass nur Menschen mit psychischen Problemen obdachlos würden», sagt Barkouris. «Doch die Krise hat alles verändert. Jeder kann der Nächste sein.»

Offiziell steht die Arbeitslosigkeit in Griechenland bei rund 20 Prozent, Tendenz steigend. Doch die Politik steht der Entwicklung ratlos gegenüber. «Wirtschaftswachstum» lautet das Zauberwort im griechischen Wahlkampf, aber kein Politiker scheint konkrete Vorstellungen zu haben, wie es zustande kommt. Stattdessen geben sich alle Parteien gegenseitig die Schuld für die Wirtschaftsmisere.

Medizinische Behandlung nur gegen Bargeld

Darüber kann sich der Lederwarenhändler Giorgos Sofronas nur ärgern. «Wir brauchen keine Neuwahlen. Politiker müssen sich an einen Tisch setzen und Lösungen ausarbeiten», fordert der Mittsechziger, der sich bestens auskennt mit Wirtschaftskrisen. Im bitterarmen Nachkriegsgriechenland ­verliess er die Schule ohne Abschluss, um als Tagelöhner zu arbeiten und seinen ­Unternehmenstraum zu verwirk­lichen: Lederwaren aus eigener Herstellung, die seinen Namen tragen.

«Seit 1967 bin ich Unternehmer. ­Höhen und Tiefen gab es schon immer, aber wir hatten noch nie mit einer solchen Krise zu kämpfen», sagt Sofronas. «Und wissen Sie, wovor ich am meisten Angst habe? Dass ich vielleicht gezwungen werde, Leute zu entlassen, die seit 20 Jahren für mich arbeiten.»

Auch der Ruhestand ist keine Lösung, befürchtet der Lederhändler: «Nach den jüngsten Sparrunden stünde mir eine Rente von nur 600 Euro zu. Ausserdem hätte ich als Rentner kein Geld mehr für Medikamente. Im Moment erhältst du in Griechenland Arzneimittel oder medizinische Behandlung nur gegen bar.»

Kein Geld mehr für Gesundheit

Der Zusammenbruch des Gesundheitswesens ist der jüngste Auswuchs der Krise. Weil ihre Forderungen ­gegenüber Spitälern und Krankenkassen nicht beglichen werden, liefern Pharmaunternehmen und Apotheker nur noch gegen Barzahlung.

Allein die grösste Krankenkasse ­Eopyy steht mit zwei Milliarden Euro in der Kreide. Das hat schwere Folgen, vor allem für Versicherte, die auf teure Diabetes- oder Krebsmedikamente angewiesen sind. Seit Wochen bilden sich lange Patientenschlangen vor dem Eopyy-Haupt­gebäude am Athener Omonoia-Platz. Mittlerweile herrscht gähnende Leere im Patientensaal, da sich Pflegebe­dürftige nicht mehr auf die Strasse trauen bei 34 Grad im Schatten. Oft über­nehmen jüngere Verwandte die lästige Pflicht, gegen die Bürokratie anzukämpfen.

Wie etwa Aphrodite Giannakarelli. Geduldig wartet die 30-Jährige am Schalter, bis der Behandlungsantrag ­ihrer krebskranken Tante geprüft wird. Dann teilt ihr die Sachbearbeiterin mit, es bedürfe zusätzlicher Untersuchungen. «Da gehen wieder ein paar Tage verloren», sagt Aphrodite.
Als hätte die alleinerzie­hende Mutter nicht genug Stress mit ­ihren eigenen Problemen. Ende Juni will sie die Abschlussprüfung im Stu­diengang Theaterwissenschaft schaffen. Nun muss sie den Prüfungstermin verstreichen lassen wegen dem Behördenkram. Auf ihre Tochter muss die krebskranke Tante aufpassen, ein Babysitter wäre zu teuer.

Not für Wahlkampf missbraucht

Der Gesundheitsminister der grie­chi­schen Übergangsregierung ruft alle ­Seiten auf, die Lage nicht weiter zu ­verschärfen. Sein Appell bleibt ohne Wirkung, denn auch dieses Thema wird gerne für den Wahlkampf instrumen­talisiert. Der Kollaps der Arzneimittel­versorgung führe die Ausweglosigkeit der Sparpolitik vor Augen, behaupten die einen. Alles nur ein Vorgeschmack dessen, was käme, wenn Griechen-land aus dem Euro ausscheidet, erwidern die anderen.

Zeit für eine Pause am Periptero – dem kunterbunten griechischen Kiosk, an dem man jederzeit Tabakwaren und frische Zeitungen bekommt. Ein nicht zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor: 17 000 Kioske gibt es im Land, deren Einnahmen machen fünf Prozent des Bruttosozialprodukts aus.

Dennoch macht der Kioskbetreiber Aristidis Balafas keinen glücklichen Eindruck. «Die Mehrwert- und Tabaksteuererhöhungen drücken unseren Umsatz in den Keller», klagt der 35-jährige Geologe, der ­keine Arbeit findet, die seinem Diplom entspricht. «Viele haben mit dem Rauchen aufgehört oder steigen auf Billig­tabak um, der kaum Gewinn abwirft.» Kein Wunder, dass die Kioskbesitzer im Oktober 2010 erstmals in den Streik getreten sind.

Schmerzhafte Lohnkürzungen

Offenbar reichen Steuererhöhungen und Lohnkürzungen nicht aus, damit die griechische Wirtschaft auf die Beine kommt. Sowohl die konservative Partei Nea Dimokratia, die in jüngsten Um­fragen knapp führte, als auch das linke Bündnis Syriza, das erstmals an die Macht will, rekrutieren Wähler aus den Reihen derjenigen, die viel verloren haben durch die Krise. Nach aufein­anderfolgenden Lohnkürzungen haben selbst die einst vielgescholtenen Beamten die Grenzen ihrer Belastbarkeit ­erreicht.

Die Grundschullehrerin Dionyssia Plessa kann ein Lied davon singen. Ihr monatliches Nettoeinkommen wurde von 1500 Euro auf 900 Euro gekürzt. Ähnliches musste ihr Mann hinnehmen, der ebenfalls Lehrer ist.

Noch mehr zu schaffen macht den beiden, dass sie aus dienstlichen Gründen getrennt leben: Dionyssia arbeitet in Athen, ihr Mann unterrichtet im vier Autostunden entfernten Ort Amaliada auf dem westlichen Peloponnes. Nur am Wochenende kommt die Familie ­zusammen. Dadurch entstehen zusätz­liche Fahrt- und Wohnkosten. «Wir ­leben praktisch von einem Gehalt, ­obwohl wir Doppelverdiener sind», sagt die Mutter von zwei Kindern.

Dennoch zählt sich das Lehrerehepaar zu den Privilegierten, die zumindest einen sicheren Job haben. Bei vielen Eltern sieht das anders aus, weiss Dionyssia zu berichten: «Irgendwann merkten wir Lehrer, dass nicht wenige Schulkinder jeden Tag die gleichen ­Kleider tragen oder nicht mehr in die Kantine gehen. Da wollen wir helfen, aber so, dass kein Kind ausgegrenzt oder stigmatisiert wird.»

Nach vielen Elternrunden hat Schul­leiter Giorgos Kappis ein Hilfsnetz gegründet, das vollkommen unauffällig Unterstützung leistet. «Geschäfte in der Nachbarschaft spendieren Lebens­mittel. Bedürftige Kinder gehen in die Kantine, holen ihr Pausenbrot und sagen dem Mann an der Kasse, er soll ­alles aufschreiben, Papa würde zahlen. Das ist ja so üblich bei uns. Dann fällt gar nicht auf, dass manche Kinder kein Geld fürs Pausenbrot haben.»

Nichts mehr zu verlieren

Krisenzeit ist immerhin auch Gründerzeit. Dann sind die Leute eher bereit, sich ihren eigenen Job zu schaffen – ­vorausgesetzt, sie haben etwas Geld auf der hohen Kante. Apostolos Batsiakos ist ­einer dieser Menschen, die entweder viel Mut oder nichts mehr zu verlieren haben. In bester Stadtlage eröffnete der 53-Jährige ein Steh-Restaurant mit französischem Flair und moderaten Preisen. Das Geld stammt von seinen Ersparnissen.

Batsiakos ist ein «Vagabund», wie man in Griechenland sagt. Er nimmt seine ­Chancen im Ausland wahr und arbeitet dort, bleibt aber der Heimat nos­talgisch verbunden und sucht diese immer wieder auf. Batsiakos hat schon alles ausprobiert im Leben: Er war Stadtplaner in Frankreich, Restaurantbetreiber in Brüssel, Experte im griechischen Umweltministerium, Geschäftsinhaber. Heute steht er hinter dem Tresen und serviert Brötchen.

«Mit meinem Bruder führte ich bis 2011 ein Fachgeschäft für Haushalts­geräte. Wir mussten aufgeben, da wir unter doppeltem Druck standen: Lieferanten im Ausland wollten im Voraus bezahlt werden, aber viele Kundinnen und Kunden waren im Zahlungsverzug», sagt der Vater von zwei Kindern. «Am Tresen kannst du viel besser mit Kosten umgehen. Du bekommst vielleicht nur zwei Euro für das, was du verkaufst, aber diese zwei Euro kriegst du sofort auf die Hand. Das Gefühl habe ich lange vermisst», sagt der Stadtentwickler und Umweltexperte in Küchenschürze.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 15.06.12

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