Wir alle sind Griechen!

Die griechische Schuldenkrise treibt die EU und ihren Euro an den Rand des Abgrunds. Also raus mit den Griechen! Bloss: Was wäre Europa ohne die Griechen? Gar nicht existent.

Der Pnika-Hügel mit Blick auf die Akropolis ist nicht nur ein beliebter Ort für Ausflügler, hier hängen auch junge Leute ohne Beschäftigung gerne herum. (Bild: Myrto Papadopoulos)

Die griechische Schuldenkrise treibt die EU und ihren Euro an den Rand des Abgrunds. Also raus mit den Griechen! Bloss: Was wäre Europa ohne die Griechen? Gar nicht existent.

In wenigen Wochen werden in London die Olympischen Spiele stattfinden. Spartanisch trainierte Athleten aus aller Welt werden in den Stadien zum edlen Wettstreit antreten, den Diskus schleudern, gymnastisch turnen, auch wenn sie dabei alles andere als gymnos in Aktion treten – denn das würde der Erotik Vorschub leisten. Die Kunstturner werden an ihren Geräten akrobatische Übungen zeigen, die Sieger werden des Abends unter gleissendem elektrischem Licht ihre Medaillen in Empfang nehmen.

Die kursiv gesetzten Worte sind griechischen Ursprungs; wir kommen in unserem sprachlichen Alltag gar nicht um diesen Ursprung herum. Ob wir als Pädagoge amten, mit dem ­Automobil unterwegs sind oder uns ökologisch korrekt verhalten und nur Bio-Fleisch auf unsere Teller lassen, wenn wir Helikopter fliegen, ein Telegramm aufgeben, telefonieren, Orgel spielen, in der Oper einem Bariton zuhören, die Bibel lesen oder in die Syna­goge gehen, als Demokraten unsere politischen Rechte wahrnehmen, ob wir Idealisten oder Idioten sind, Philanthropen oder Misanthropen, wenn wir im Lexikon nachschlagen, kosmetische Produkte benutzen, wenn wir Probleme haben und wenn wir dynamisch durchs Leben gehen – logisch, dass das alles aus dem Altgriechischen kommt; und dass wir das schreiben und Sie es lesen können, verdanken wir der Tatsache, dass wir (fast) alle das Alphabet beherrschen.

Dame mit Migrationshintergrund

Die Frage, ob Griechenland noch europatauglich ist, erscheint unter diesem Blickwinkel absurd. Europa gäbe es in seiner kulturellen Vielfalt gar nicht ohne seine griechischen Wurzeln. Literatur, Poesie, Theaterkunst, Bildhauerei, Malerei, Architektur, Philosophie, Physik, Astronomie stammen in ihrer modernen Gestalt letzten Endes vom antiken Griechenland ab.

«Griechische Wurzeln» ist freilich etwas unpräzise, denn die sagenhafte Europa, die von Zeus in Gestalt eines schneeweissen Stiers nach Kreta entführt wurde, war eine phönizische Königstochter, stammte also wahrscheinlich aus der Gegend des heutigen Libanon. Die Namenspatronin Europas, der EU und des Euros ist eine Dame mit Migrationshintergrund.

Selbstverständlich haben die heutigen Griechen mit ihren antiken Vorfahren kaum mehr zu tun als wir anderen Europäer. Und nicht einmal die Griechen selber bestreiten, dass ihr Land in einer existenzbedrohenden wirtschaftlichen Krise steckt, die zwar nicht nur, aber auch selbst verschuldet ist.

Selbstverständlich war es falsch, Griechenland in die Euro-Zone aufzunehmen. Wahrscheinlich hatte Oskar Lafontaine, der frühere deutsche Finanzminister, recht, als er den Euro vor 20 Jahren unverblümt als «Fehlkonstruktion» bezeichnete; so gesehen wären nicht die Griechen, sondern der Euro untauglich für Europa.

Womöglich hatte Lafontaine auch jüngst in seinem Vortrag am Swiss Economic Forum recht, als er behauptete, das heutige wirtschaftliche System sei eine «Diktatur der Finanzmärkte», ein «Schuldensozialismus». Ein System, in dem eine kleine Gruppe von Menschen riesige Reichtümer anhäuft, während die buchhalterische Gegenposition zu diesem Reichtum, der Schuldenberg also, den Staaten aufgebürdet wird. Dessen Steuerzahler dürfen dann die fälligen Sparübungen ausbaden.

«Die Krise ist der willkommene Vorwand, um den Mangel an politischem Willen zu verdecken. Für manche Dinge gibt es eben immer eine ‹Krise›.» So empfindet der katalanische Drehbuch- und Romanautor Jaume Cabré («Das Schweigen des Sammlers») den gegenwärtigen Zustand Europas. Dennoch bleibt er ein «begeisterter Europäer».

Das hängt wohl auch damit zusammen, dass er dank des Aufbruchs Spaniens nach Europa gleich zwei Befreiungen erlebt hat: jene seines Landes von der Franco-Diktatur und jene seiner Muttersprache, des Katalanischen. Solche Befreiungserfahrung teilen die Spanier mit den Portugiesen, mit den osteuropäischen Völkern – und auch mit den sechs Gründerstaaten der EU, die aus der Montan-Union zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dann zur Europäischen Union heranwuchs.

Die Europäer – und nicht nur jene in der EU – sollten sich vielleicht ­wieder einmal Gedanken darüber ­machen, warum man ursprünglich die Einigung Europas ins Auge fasste. Damals, 1946, als Winston Churchill auf der heilen Insel im kriegszerstörten Europa, in Zürich, seine berühmte Rede zur Vereinigung Europas hielt. Etwas später, an der Haager Konferenz, als sich die geistige Elite Europas versammelte, um die Zukunft des Kontinents zu diskutieren.

Damals ging es nicht in erster Linie um wirtschaftliche Fragen, sondern nach dem Gemetzel des Zweiten Weltkriegs um Existenzielleres. Politiker der ehemaligen Kriegsparteien rauften sich zusammen, und an den Schlagbäumen auf beiden Seiten des Rheins trafen sich junge Franzosen und junge Deutsche, nicht gleich zur Verbrüderung, aber doch mit der festen Absicht, einander nie wieder totzuschlagen. Das vereinte Europa als Friedensprojekt ist erfolgreich; es wurde von den Völkern in der Franco- und der Salazar-Diktatur, die beide den Weltkrieg überlebt hatten, ebenso als Freiheitshoffnung wahrgenommen wie von den Griechen, die unter ihrer Militärdiktatur litten, und von den Völkern Osteuropas, die aus dem sowjetischen Imperium ausbrechen wollten.

Es geht um ein friedliches Europa

Die Gründerväter betrachteten die wirtschaftliche Konvergenz als den besten – wenn auch sehr langen – Weg zur kontinuierlichen, friedlichen politischen Vereinigung des Kontinents: ein gemeinsamer Markt, Abbau von Zöllen, Freizügigkeiten aller Art, teilweise Harmonisierung der Steuer­systeme, gegenseitige Anerkennung der Ausbildungsgänge. Und zuletzt, wahrscheinlich aber immer noch zu früh, der Euro als gemeinsame Währung. Dieser letzte Schritt war womöglich zu gross.

Unter den Turbulenzen, die uns die verfrühte Einführung des Euro beschert hat, leiden heute die Bürger in den am stärksten überschuldeten Staaten – allen voran die Griechen. Aber auch die Länder mit stabiler Wirtschaft vornehmlich im Norden Europas und sogar jene, die mit den europäischen Institutionen allenfalls bilaterale Verträge abgeschlossen haben wie die Schweiz, leiden unter der Euro-Krise. Am gravierendsten allerdings könnte der Schaden werden, wenn das eigentliche Ziel – ein friedliches, ­geeintes und zugleich vielfältiges Europa – in Vergessenheit geraten sollte.

Wenn wir keine Technik finden, um dieses Drama abzuwenden, könnte die Finanzkrise für Europa zur politischen Katastrophe werden. Nicht wegen der Griechinnen und Griechen – sondern trotz der gross­artigen Hinterlassenschaft ihrer Vorfahren.

➊ Der Pnika-Hügel mit Blick auf die Akropolis ist nicht nur ein beliebter Ort für Ausflügler, hier hängen auch junge Leute ohne Beschäftigung gerne herum.➋ Das Panathenaic-Stadion in Athen: Ort der grossen Spiele – aber auch Trainingsplatz für die Bevölkerung. Fotos: Myrto Papadopoulos

Europa gäbe es in seiner kulturellen Vielfalt gar nicht ohne die Griechen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 15.06.12

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