Unzählige Inseln erheben sich in der Ägäis, im Dodekanes aus dem Meer. Ihre Bewohner leben vom Tourismus. Doch dieses Jahr wollen die Touristen nicht kommen.
Ausser diesem einen Mann sitzt niemand im Kafenion Amopi in Pigadia. Das ist seltsam, denn in früheren Jahren fand man hier, Anfang Juni, so kurz vor Mittag keinen freien Platz. Der Mann sitzt, rührt in seinem Tee und schaut aufs Meer hinaus. In die Weite, in die Ferne, ins Blaue.
Wir setzen uns an den Nebentisch, plaudern, und plötzlich spricht uns der Mann an. Woher wir seien, fragt er. Aus der Schweiz, sagen wir. «High Class», sagt er und schaut wieder aufs Meer. Das kam etwas unvermittelt, wir plaudern weiter. Dann wendet sich der Mann – er ist gewiss über 80 Jahre alt und sehr hager – uns erneut zu und sagt: «Eure Regierung hat uns Griechen 50 Milliarden Euro gestohlen.» So hören wir das zum ersten, allerdings nicht zum letzten Mal. Und so wollen wir das nicht stehen lassen, versuchen dem Mann zu erklären, dass nicht unsere Regierung das Geld geholt habe, sondern dass reiche Griechen ihr Geld an ihrem eigenen Fiskus vorbei auf Schweizer Banken gebracht und … «Trotzdem», unterbricht der Grieche, «ihr Schweizer habt unser Geld, das wir jetzt so dringend brauchen.» Er legt Münzen auf den Tisch, erhebt sich und schreitet von dannen.
In den Strassen die grosse Leere
Ferien in Griechenland im Krisenjahr 2012? Ferien auf den griechischen Inseln? Soll man da hingehen? Ja, haben wir uns gesagt, denn die Inseln sind weit weg vom politisch heissen Athen und die Leute auf den Inseln leben vom Tourismus.
Aber sie leben schlecht in diesen Zeiten – die Ankunft auf dem Flughafen in Rhodos war anders als sonst. Wo es früher nur so wuselte von Reisenden mit Rollkoffern und Rucksäcken, empfängt uns grosse Leere. Die Angestellten der Leihwagenfirmen langweilen sich hinter ihren Schaltern, die einst endlos lange Taxischlange ist auf wenige Autos zusammengeschrumpft.
Unser Fahrer erklärt uns nicht nur wortreich, dass man dieses Jahr wegen der Krise, «wegen diesen unfähigen Politikern!», weniger als die Hälfte der bisher üblichen Touristen erwarte, er organisiert uns auch ein Hotelzimmer und eine Rückfahrt auf den Flughafen am kommenden Morgen, mit seiner Schwester als Taxifahrerin. Er will uns einen Stadtrundgang durch die antike Altstadt von Rhodos anbieten, aber den unternehmen wir auf eigene Faust.
Es ist ja nicht so, dass wir den Rummel suchen. Aber ein Spaziergang durch eine touristische Flaniermeile, in der sich nun fast gar nichts mehr regt, hat auch wenig Erhebendes. Viele Läden und Boutiquen sind geschlossen. Die Restaurants und Tavernas sind leer. Die Kellner, die einst umtriebig auf der Strasse standen und Touristen in ihre Beiz zerrten, sitzen resigniert auf ihren Stühlen, rufen – wenn es hoch kommt – der einen oder anderen Touristin ein Kompliment nach.
Und dann der Flug nach Karpathos – im fast leeren «Inselhüpfer» hinüber auf diese zwischen Rhodos und Kreta gelegene Insel, auf der 6000 Einwohner leben. Die Insel ist wild, ist schön, hat viele lauschige Badestrände, kaum Discos, keine lärmenden Wasserflitzer, wunderschöne Spazierwege, verwunschene Bergdörfer, das Matriarchen-Städtchen Olympos, wo die Frauen das Sagen haben. Die Menschen haben zweierlei Einkommen: Erstens leben sie vom Geld, das die Auswanderer heimschicken oder von ihrem Ersparten, wenn sie denn selbst zurückkehren. Und zweitens – seit etwa 30 Jahren zunehmend – vom Tourismus.
Diese zweite Quelle aber sei am Versiegen, sagen die Leute. Man müsse nur mal nach Pigadia, in die Inselhauptstadt mit dem kleinen Hafen, gehen. Tatsächlich: Dort hocken – nicht nur im Kafenion Amopi, wo der alte Mann sass – die Kellner und Wirte resigniert und als einzige Gäste in ihren Restaurants. Die Feinbäckerei ist geschlossen, der Kiosk mit den internationalen Zeitungen ebenso. Im Supermarkt sind viele Regale leer.
Nico, Besitzer eines Souvenirgeschäfts, befürchtet, dass diese Saison seine letzte sein könnte. Er hat 23 Jahre lang in Kanada gelebt, sich vom Ersparten dieses Geschäft aufgebaut – doch wenn es so weitergeht, muss er bald schliessen. Er zahle plötzlich fünf Mal mehr Steuern, seine erwachsenen Kinder müssten dem Staat Abgaben entrichten, obwohl sie weniger als die frühere Steuerfreigrenze von 10 200 Euro verdienten. Auf die Länge bedeute das den Ruin.
Zwei Jahre Frist sind zu wenig
Schuld am Desaster sind für Nico die Politiker. Die Politiker ganz allgemein, unbesehen ihrer Parteizugehörigkeit. Es habe Vetternwirtschaft geherrscht über all die Jahre – und Europa habe nur zugeschaut. Jetzt plötzlich verlange die EU, dass Griechenland innerhalb von zwei Jahren saniert werden müsse. «Was in 50 Jahren verpfuscht worden ist, kannst du nicht in zwei Jahren flicken», schimpft Nico, «sonst stirbt Griechenland – und eine tote Kuh gibt keine Milch mehr.» Man müsse langsam aufbauen, investieren, die Wirtschaft ankurbeln. Und zwar mit diesen 50 Milliarden, die diese Gauner von Politikern in der Schweiz versteckt hätten.
Wir geben uns als Schweizer zu erkennen und versuchen erneut, die ganze Sache mit dem griechischen Geld auf Schweizer Banken etwas differenzierter zu erörtern. Das funktioniert aber nicht. «Ihr profitiert von diesem Geld und geschäftet mit ihm», sagt Nico. Das sei unerhört. «Wenn ich weiss, dass diese Sonnenbrille hier», und er hält sie uns vor die Nase, «geklaut ist, dann kann ich sie doch nicht benutzen.»
Er, wie alle anderen auf der Insel, mit denen wir reden, hat gar keine Erwartungen in die kommenden Wahlen. Es weist auch wenig auf sie hin – ausser den heftigen Diskussionen im Fernsehen, bei denen sich die Kandidierenden beleidigen und sogar verprügeln.
Plakate hängen keine – und wenn, dann sind es klebengebliebene vom letzten Wahlgang im April. Prognosen wagt niemand, eher äussern die Leute Befürchtungen, dass die extremen Parteien – links die Syriza, rechts die Chryssi Avgi – gewinnen könnten. «Man klammert sich an jede Hoffnung und wagt auch das Extreme», sagt Nico. «Wenn du nass bist, macht es dir nichts aus, in den Regen hinauszugehen.»
Warten auf die Rente
Zurück zur Drachme will niemand, jedenfalls spricht es niemand aus. Er sei zwar gegen den Euro gewesen, sagt Ntinos, der zusammen mit seiner Frau Maria und der Familie des Bruders ein kleines Ferienreich im Fischerort Lefkos aufgebaut hat. Aber jetzt will er am Euro festhalten. Auch wenn ihm die Euro-Krise nur Unheil bringt.
Unter anderem auch das: Seit 2010 wartet der 67-Jährige auf seine Altersrente. Noch keinen Cent hat er erhalten. «Wehrst du dich denn nicht?», fragen wir. «Ach», sagt Ntinos, «mit mir warten 170 000 andere Leute auf ihre Rente.»
Wir sind die einzigen Gäste in den beiden aparten Häusern, die Ntinos und sein Bruder vor 15 Jahren vis-à-vis von ihrer Fischer-Taverne liebevoll gebaut haben. Die anderen 15 Studios stehen leer. Nach den Wahlen im April hat die Agentur, mit der Ntinos zusammenarbeitet, die meisten Buchungen für diesen Sommer annulliert. Als Neuwahlen ausgerufen wurden, folgten weitere Absagen. «Wir besitzen bald nur noch, was wir auf dem Körper tragen», klagt Maria.
Sie übertreibt ein bisschen. Ihnen gehören neben den Studios auch noch ein Haus und fruchtbares Land mit Obstbäumen. Täglich beschenkt sie die wenigen Gäste mit ihren Früchten, serviert Gemüsetaschen, stellt Lukumades auf den Tisch. Alles Zeichen der Gastfreundschaft. Man müsste eigentlich gar nichts bestellen, keine Fische, kein Souvlaki – man würde schon satt von dem, was Maria als Gastgeschenk hinstellt.
Mehr kann man nicht tun für die Gäste. Und trotzdem kommen sie nicht. Sie bleiben aus – «wegen der Krise», sagt Ntinos. «Sie haben Angst. Vor was? Vor Streiks? Dass der Strom ausfällt? Vor was sonst?» Ntinos gibt sich die Antwort selbst: «Ich glaube, man macht uns schlecht in Europa.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 15.06.12