Die Geschichte eines Tankers, der im Mittelmeer Flüchtlinge rettet und nach einem sicheren Hafen sucht.
In der Nacht vom 4. auf den 5. August 2013 geraten Flüchtlinge nach der Abfahrt aus Libyen mit ihren Schlauchbooten in Seenot. Das Handelsschiff «Adakent» rettet 96 Menschen das Leben, der Öltanker «MT Salamis» nimmt 102 Menschen an Bord, darunter vier schwangere Frauen und ein Baby. Sie kommen ursprünglich aus Eritrea und dem Sudan. Die italienische Seenotrettung, die Alarm geschlagen hat, weist die beiden Schiffe an, die Asylsuchenden nach Libyen zurückzuschaffen, berichtet der Blog «Migrants at Sea».
Die «Adakent» kommt der Aufforderung nach, der Kapitän der «MT Salamis» hingegen entscheidet, Tripolis sei kein sicherer Hafen und nimmt deshalb Kurs auf Malta, sein geplantes Ziel. Der Inselstaat verhindert die Einfahrt des Tankers mit Kriegsschiffen. Erst auf Druck der EU-Behörden können die Asylsuchenden am 7. August in Italien an Land gehen. Der Kapitän der «Salamis» wird für die Entscheidung, sie nach Europa zu bringen, rechtlich nicht belangt.
Mitverantwortung der Schweiz
In den Schweizer Medien wird die Geschichte der «MT Salamis» bloss in den Randspalten erwähnt, obwohl das Land für die Geschehnisse an der europäischen Grenze eine Mitverantwortung trägt: 2005 hat die Schweiz die Verträge von Schengen und Dublin unterzeichnet – der Schengen-Vertrag regelt den freien Personenverkehr zwischen den EU-Staaten bei gleichzeitiger Aufrüstung der gemeinsamen Aussengrenze, der Dublin-Vertrag bestimmt, dass ein Asylsuchender nur in dem Staat ein Gesuch stellen kann, den er zuerst betritt. In der Migrationspolitik ist die Schweiz sozusagen Vollmitglied der EU, sie ist auch beteiligt an der Grenzschutzagentur Frontex.
Dank der Entwicklung von zunehmend leistungsfähigerer Überwachungstechnologie kann Frontex die Aussengrenze immer lückenloser überwachen, etwa mittels biometrischer Visa. Für Menschen von ausserhalb wird es so immer schwieriger, die Wohlstandsgrenze des Schengenraumes zu überqueren.
Recht auf einen sicheren Hafen
Auf dem Mittelmeer spielt sich eine stille Katastrophe ab. In den letzten 25 Jahren haben auf der Flucht nach Europa mehr als 20 000 Menschen ihr Leben verloren. Dass der Kapitän der «MT Salamis» die Flüchtlinge nach Europa gebracht hat, ist zumindest ein kleiner Fortschritt: Noch vor wenigen Jahren lieferte die italienische Grenzwache mit dem Wissen ihrer europäischen Partner Flüchtlinge direkt nach Libyen und damit in die Gefangenenlager von Diktator Muammar al-Gaddafi aus.
Einigen von diesen Ausgeschafften gelang 2012 ein viel beachteter Erfolg am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg: Seither gilt das Non-Refoulement-Prinzip, also das Verbot der Ausschaffung in einen Staat, in dem Folter droht, auch auf hoher See. Flüchtlinge, die in Seenot gerettet werden, müssen auf jeden Fall die Möglichkeit haben, in einem sicheren Hafen ein Asylgesuch stellen zu können.
Die Blockade des kleinen Malta und die zögerliche Aufnahme von Italien sind aber vor allem ein Hinweis, dass das Dublin-System gescheitert ist. «Die EU darf sich nicht nur in Notfällen, wie dem der ‹Salamis› einmischen, sondern muss das Dublin-System ernsthaft überdenken», schreibt die Menschenrechtsorganisation «Borderline Europe». Die südlichen Länder, die von der Wirtschaftskrise am stärksten betroffen sind, haben aufgrund ihrer geografischen Lage gleichzeitig die meisten Flüchtlinge aufzunehmen: In Griechenland beispielsweise sitzen Hunderttausende fest, obdachlos und bedroht durch die Gewalt von neofaschistischen Schlägertrupps. Ein funktionierendes Asylsystem gibt es keines.
Eine kleinliche Diskussion
Dieser Blick auf die Herausforderung anderer europäischer Staaten lässt die zunehmende Isolation von Asylsuchenden durch die Schweizer Behörden und die endlose Diskussion in der Bevölkerung um Unterkünfte noch kleinlicher erscheinen.
Erst recht, wenn man die Zahlen der UNO-Flüchtlingsorganisation UNHCR bedenkt, wonach weltweit vier Fünftel der Flüchtlinge in den Nachbarländern aufgenommen werden, wie die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge im Irak und in der Türkei auch jetzt wieder zeigen.
Kaspar Surber ist Autor des Buches «An Europas Grenze. Fluchten, Fallen, Frontex», das 2012 im Echtzeit-Verlag erschienen ist.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 23.08.13