Die neue Völkerwanderung

Die Vielzahl der Flüchtlinge, die in Europa unterwegs ist, ruft das Bild einer Massenbewegung hervor. Ein Blick in die Geschichte lässt einen aber mit einer gewissen Gelassenheit auf die Situation heute blicken.

Vom alten Kontinent nach NewYork: Bis ins frühe 20. Jahrhundert wanderten 50 Millionen Europäer in die USA aus.

(Bild: Getty Images)

Die Vielzahl der Flüchtlinge, die in Europa unterwegs ist, ruft das Bild einer Massenbewegung hervor. Ein Blick in die Geschichte lässt einen aber mit einer gewissen Gelassenheit auf die Situation heute blicken.

Angesichts der enormen Flüchtlingszahlen sprechen manche von einer Völkerwanderung. Was wird damit gesagt und was ist damit gewonnen? Der Begriff wird zum Teil völlig arglos verwendet, um die ausserordentliche Dimension der Migrationsbewegung auszudrücken und zugleich darauf hinzuweisen, dass es auch ausserordentliche Anstrengungen braucht, um eine anständige Aufnahme sicherzustellen.

Zu einem anderen Teil ist der Begriff Völkerwanderung aber auch negativ besetzt. In diesem Verständnis wird er von denjenigen verwendet, die eine angsteinflössende Massenbewegung vor sich sehen – wie eine Springflut. Dazu gehört die Furcht vor Verdrängung, Unterwanderung oder Überlagerung. Die Angst vor Völkerwanderungen gehört zur Grundausstattung der westeuropäischen Kollektivseele – sofern es so etwas gibt.

Wie es zu dieser Angst gekommen ist, ist schwer festzustellen. Tiefliegende Erinnerungen an den Einfall der Langobarden im 6. Jahrhundert? An die Eroberung der Iberischen Halbinsel durch die Araber im 8. Jahrhundert? An die Ungarnstürme des 10. Jahrhunderts? An die Türken vor Konstantinopel (1453) und vor Wien (1519 und 1683)? Doch das waren grösstenteils militärische Feldzüge und keine «Wanderungen». Vor Gleichsetzungen sollten wir uns hüten, denn was uns die Geschichte präsentiert, sind immer wieder neue Ereignisse.

Wilde Germanen und friedliche Alemannen

Der Begriff der Völkerwanderung kam erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf, das damit verbundene Bild eines Schauerszenarios erfreute sich im folgenden 19. Jahrhundert besonderer Beliebtheit in den sich immer stärker verbürgerlichenden Gesellschaften. Noch in den 1950er-Jahren wurde der Basler Schuljugend in der Heimatkunde das Bild vom Sturm der wilden Germanen vermittelt, die, aus dunklen Wäldern kommend, Augusta Raurica mit seiner hochstehenden Zivilisation dem Erdboden gleichmachten oder in einem anderen Bild als eher friedliche Alemannen das spätere Baselbiet infiltrierten.

Die heutige Forschung distanziert sich von der Vorstellung, dass ganze Volkseinheiten als homogene und kompakte Trecks aufbrachen und sich ebenso kompakt an einem anderen Ort niederliessen. Das wird heutzutage als Mythos eingestuft. Zu Recht wird dabei auch der ethnisierende Volksbegriff in Frage gestellt.

In einem kürzlich veröffentlichten Interview mit der «Aargauer Zeitung» sprach der Bremer Soziologe Gunnar Heinsohn ebenfalls von einer «neuen Völkerwanderung» und rechnete mit seinen Makrodaten vor, dass wegen des Geburtenüberschusses «allein» 540 Millionen Menschen aus Afrika und aus dem arabischen Raum auswandern wollen. Entsprechend gross war die Aufregung im anschliessenden Blog. Da wurde etwa angeregt, es müsse mit Förderprogrammen dafür gesorgt werden, dass europäische Frauen «etwas» mehr Kinder zur Welt brächten.

Bei einem Ausländeranteil von 0,3 Prozent möchten die Polen – paradoxer- aber auch logischerweise – keine Ausländer haben.

Die Berliner Politologe Herfried Münkler skizzierte in der NZZ ein Gegenbild dazu. Er charakterisierte Migration sozusagen als Normalphänomen und als Innovationsgenerator und erinnerte daran, dass im 19. Jahrhundert über 50 Millionen Menschen aus Europa nach Amerika auswanderten. Massenmigration würde, so Münkler, weniger wegen der schieren Menge schockieren als wegen des Verlusts der illusionären Vorstellung der Steuerbarkeit.

Hier würde der Blick in die Geschichte helfen. Doch in welcher Weise? Sie könnte mit ihrem Panoramablick dazu ermuntern, der Gegenwart mit einer gewissen Gelassenheit zu begegnen.

Diese Gelassenheit ist offensichtlich nicht überall vorhanden. Natürlich gibt es in der Schweiz bei den Rechtsnationalen die ewig gleiche Tendenz, auf Vorrat in Panik zu machen. Da dürfte man sich an das Jahr 1999 erinnern, als vor dem Hintergrund des Kosovokrieges kurzfristig an die 50’000 Flüchtlinge in die Schweiz kamen.

Die Front im Osten

Deutlich ist die breite Ablehnungsfront in den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten. Die stossende Weigerung, sich an der Aufnahme von Flüchtlingen zu beteiligen, ist unter anderem damit erklärt worden, dass diese Länder unter der Sowjetfremdherrschaft gelitten hätten. Besonders im Falle Polens komme die starke Homogenität der Bevölkerung erschwerend hinzu: Weil der Ausländeranteil nur 0,3 Prozent beträgt, möchte man – paradoxer- und doch auch logischerweise – keine Ausländer haben.

Vorgeschoben ist die in Polen zu hörende Begründung, dass man Kapazitäten für eine künftige Fluchtwelle aus der Ukraine bereithalten müsse. Mit im Spiel dürften auch die Reste einer alten, gegen den «Osten» gerichtete Bollwerkmentalität (extra muros) aus früheren Jahrhunderten sein. Die starke Präsenz antiislamistischer Argumente weist darauf hin. Dagegen vermag selbst der Aufruf des streng katholischen Solidarnosc-Führers Lech Walesa wenig auszurichten.

Polen mit seinen 38 Millionen Einwohnern (und einer bescheidenen Besiedlungsdichte von 123 Einwohnern/km² gegenüber 227 Einwohnern/km² in Deutschland) hat als grösstes Land in der östlichen EU-Zone eine besondere Verantwortung für die Haltung der sogenannten Visegrad-Gruppe (zusammen mit Ungarn, Tschechien, Slowakei). Bei diesen Ländern zeigte sich übrigens eine bemerkenswerte Übereinstimmung in der Bereitschaft von 2003, den Irak-Krieg zu unterstützen.

Solidarität ist kein Einbahnprinzip

Eine Ursache für diese befremdliche Haltung könnte die vergleichsweise kurze EU-Mitgliedschaft und das entsprechend erst schwach internalisierte Prinzip der Solidarität sein. Der östliche Teil der Union wäre jedoch zu einer doppelten Solidarität verpflichtet: zum einen ihren westeuropäischen Unionsmitgliedern, zum anderen den hilfesuchenden Flüchtlingen gegenüber.

Die Westmitglieder mahnen zu Recht, dass Solidarität kein Einbahnprinzip sei, bei dem man bloss Unterstützung – wie bei der Heranführung an den Westen – entgegennehmen kann, ohne im Bedarfsfall selber etwas beizutragen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat in den letzten Tagen vor dem Europäischen Parlament den EU-Staaten ins Gewissen geredet und (möglicherweise speziell an die Adresse der Osteuropäer) darauf hingewiesen, dass die Religion der Flüchtlinge (ob Christen, Juden, Muslime) keine Rolle spielen dürfe.

Bemerkenswert ist sodann, wie sich nun einzelne Staaten darüber freuen können, dass die Flüchtlinge ausgerechnet zu ihnen – vor allem nach «Allemania» oder «Germany»  – und nicht in andere Länder wollen. Für Dänemark ist es so plötzlich zu einer kleineren Irritation geworden, dass  Flüchtlinge nicht dableiben, sondern nach Schweden wollen. Es wird sich auch jetzt wieder zeigen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen kurzfristig zwar auch eine Last bedeutet, mindestens mittelfristig aber das Aufnahmeland stärkt.

Hilfe in der Ferne macht Hilfe direkt vor der Haustüre keineswegs überflüssig

Wer Flüchtlinge nicht aufnehmen will, gibt sich als besonders weise, indem er fordert, den armen Menschen solle am Herkunftsort geholfen werden. Doch im Fall von Syrien ist diese Haltung in keiner Weise weise, sondern absurd und zynisch. Das Argument, man solle diese Menschen in ihren «Kulturen» lassen, fixiert die Menschen auf Herkunft und verkennt die trotz Beharrungsvermögen bestehende Wandelbarkeit der Spezies Mensch.

Die sozusagen ersatzhalber empfohlene Hilfe «vor Ort» muss sich in Kriegs- und Krisengebieten auf elementare Nothilfe beschränken. In den unmittelbaren Nachbarländern und an den «Hot Spots» der europäischen Grenze braucht es mehr: insbesondere Schulbildung für die vielen jungen Menschen, damit sie nicht zu einer «verlorenen Generation» werden. Hilfe in der Ferne macht Hilfe direkt vor der Haustüre keineswegs überflüssig.

Bislang kommen nur die Vorboten

Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer hat in seiner Polemik gegen die in seinen Augen zu milde CDU-Kanzlerin Angela Merkel (eben «Mutti») ein interessantes Bild verwendet. Im «Spiegel» erklärte er, die Öffnung der Grenzen sei ein fataler Entscheid gewesen: «Ich sehe keine Möglichkeit, den Stöpsel wieder auf die Flasche zu kriegen.»

Was ist oder soll dieser Stöpsel sein? Heisst er Frontex? Oder sind das die Nato-Drahtrollen (200 Meter in Edelstahl versandkostenfrei à 479 Euro)? Und die Flasche beziehungsweise der Flascheninhalt? Das ist der gerade aktuelle Menschenstrom und im Grund genommen die Migration der ganzen Welt. Wenn die in Bewegung kommt, wird auch der bayrische Landesfürst keinen Stöpsel dagegen haben.

Die beeindruckenden Massenlandungen an den griechischen und italienischen Mittelmeerküsten und der Massenandrang auf der Balkan-Route sind nur Vorboten von anderen Bewegungen, die noch folgen können. Wir erfahren jetzt konkret, was wir vorher eigentlich schon wussten: Die Welt ist zu einer Schicksalsgemeinschaft geworden, und die einzelnen Nationen können sich nicht auf rein nationale Aufnahme- und Abwehrreaktionen beschränken.

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