Die noch direktere Demokratie

Die Piratenpartei will der Demokratie ein neues Gesicht geben. Doch was ist und was soll «Liquid Democracy» eigentlich?

(Bild: Grafik: Carla Secci)

Die Piratenpartei will der Demokratie ein neues Gesicht geben. Doch was ist und was soll «Liquid Democracy» eigentlich?

Die Demokratie musste, um zu wachsen, Kompromisse eingehen. In einer Gemeinschaft, die nicht mehr auf einen Dorfplatz passt, ist es nicht möglich, dass alle bei jeder Entscheidung mitreden und mitbestimmen. Die bisherige Lösung ist bestens bekannt: Man hält Wahlen ab, alle dürfen mitbestimmen, wer für die nächsten paar Jahre an ihrer statt mitredet und mitbestimmt. Einzelne repräsentieren die unterschiedlichen Anliegen aller. In ihrer direktesten Form, wie wir sie in der Schweiz kennen, erlaubt die Demokratie der Gemeinschaft zusätzlich, Entscheide der Repräsentanten anzufechten (Referenden) oder selber Entscheide zu erzwingen (Initiativen). Das aber ist jedesmal mit Aufwand, nicht zuletzt finanziellem, verbunden.

Das Konzept der «Liquid Democracy» will die Demokratie mit digitalen Mitteln zurück auf den Dorfplatz bringen – und sie auch in grossen Gemeinschaften in möglichst kompromissloser Form einsetzen. Und das geht so: Jede Bürgerin und jeder Bürger hat grundsätzlich das Recht, bei jeder Entscheidung mitzubestimmen. Da aber natürlich nicht alle die Zeit, das Wissen und das Interesse haben, sich mit allen Themen auseinanderzusetzen, können sie ihre Stimme punktuell an jemanden delegieren, dem sie vertrauen.

Keine Kompromisse

Konkret heisst das für mich als Bürger: Ich muss nicht für vier Jahre einer Handvoll Politiker meine Stimme geben, die bestensfalls zu 80 Prozent mit meinen Ansichten übereinstimmen. Ich kann von Thema zu Thema entscheiden, wem ich meine Stimme anvertraue und kann dies auch jederzeit wieder rückgängig machen. Also zum Beispiel: In Kulturpolitik und bei Migrationsthemen entscheide ich selber, in Bildungsthemen lasse ich eine befreundete Lehrerin für mich entscheiden, in Sachen Kulturpolitik vertraue ich einem Musiker, den ich gut kenne. Wenn mich jemand enttäuscht, entziehe ich ihm die Stimme einfach wieder.

«Liquid Democracy» verspricht so, dass nicht mehr abgewogen werden muss zwischen den Vorteilen direkter und indirekter Demokratie (breite Abstützung versus Effizienz). Sie verspricht, dass beides gleichzeitig möglich ist. Als Stimmbürger stünde mir dann die komplette Bandbreite politischer Einmischung zur Auswahl: Von der indirektesten Form (ich gebe meine Stimme pauschal an eine Person ab) bis zur direktesten Form (ich stimme bei jeder Entscheidung selber ab) ist alles möglich.
Mit digitaler Informationstechnologie wäre es heute möglich, ein solch komplexes System von Stimmendelegationen zu verwalten. Es stellt aber punkto Sicherheit und Benutzerfreundlichkeit deutlich höhere Anforderungen als gängige E-Voting-Systeme, wie sie heute bereits getestet werden und vereinzelt zum Einsatz kommen.

Zur Schweiz würde «Liquid Democracy» gut passen

Die Piratenpartei selber nutzt das Prinzip von «Liquid Democracy» als innerparteiliches System zur Entscheidungsfindung (innerhalb von Organisationen wird öfter der Begriff «Liquid Feedback» verwendet). Ein wesentlicher Aspekt ist dabei auch, dass Entscheidungen breit diskutiert werden, bevor definiert wird, worüber genau abgestimmt wird.

Davon könnten auch Staaten profitieren, sagt Christopher Lauer, Landtagsabgeordneter der Piraten in Berlin, im Interview mit der TagesWoche mit Blick auf das Minarett-Verbot per Volksabstimmung im Jahr 2009. Gerade zur Schweiz, sagt Lauer, würde «Liquid Democracy» gut passen: «Da die Schweizer gewohnt sind, zu entscheiden, würden sie sich wohl auch eher auf ein solches Konzept einlassen.» Dafür müsste man dann wohl einmalig auf die bewährte Volksinitiative zurückgreifen – genauso wie man bei Computern das alte Betriebssystem aufstarten muss, um ein Update einzuspielen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 13.04.12

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