In den Hügeln Umbriens hat Isabella Dalla Ragione ein einzigartiges Biotop geschaffen. Sie pflanzt in Vergessenheit geratene Obstsorten an, um die ökologische Vielfalt zu bewahren. Hilfe findet sie auf Renaissance-Gemälden und bei Hollywood-Stars.
Der Feldweg schlängelt sich bergauf in den Wald. Nach ein paar Metern mahnt ein handgemaltes Schild den Ankömmling zur Umsicht mit herumlaufenden Hühnern. «Jagdverbot» liest man gleich danach auf einem anderen. Zeichen für die Vorherrschaft der Natur. Dann lichtet sich der Wald und gibt den Blick frei auf ein kleines Tal in den grünen Hügeln Umbriens. Ein mit unzähligen Obstbäumen und Weinreben bewachsener Hang. Links die verwunschene Einsiedelei San Lorenzo dei Lerchi und wo das Auge hinreicht duftende Äpfel.
Es ist still, der Wind bewegt die herbstlich gefärbten Blätter. Dann rauscht im Auto die silberhaarige Patronin über diesen paradiesischen, zwischen Florenz und Perugia gelegenen Flecken heran. Hier im oberen Tibertal regiert die Langsamkeit. Und doch ist Tempo für Isabella Dalla Ragione ein entscheidender Faktor. «Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit», sagt sie und meint damit weniger den anstrengenden Alltag zwischen Bäumen, Früchten, Ernte und allerlei Anfragen, sondern ihr Lebenswerk, die Suche nach verlorenen Früchten.
«Obst-Jägerin» wurde die 59-Jährige schon genannt. Im 2013 auf der Berlinale präsentierten Dokumentar-Film «The Fruit Hunters» ist sie eine der Protagonistinnen. Die studierte Agrarwissenschaftlerin empfindet sich jedoch nicht als Jägerin, das kriegerische Element des Terminus behagt ihr nicht, genauso wenig wie das Etikett der Sammlerin. «Mit Panini-Album hat das hier gar nichts zu tun», sagt Dalla Ragione. Sie bezeichnet sich als Archäologin, als jemanden, der nach den Ursprüngen forscht, um die Gegenwart zu verstehen.
«Archeologia arborea», Baum-Archäologie, hat sie das hier von ihrem Vater Livio in den 1960er-Jahren gegründete Reservat für verloren geglaubte Obstbäume in den umbrischen Hügeln genannt.
Isabella Dalla Ragiones Vater hat das archäologische Arboretum in den Sechzigerjahren gegründet. (Bild: Max Intrisano)
Einst eine Delikatesse für den Adel, heute fast ausgestorben
Es geht ihr darum, das vergessene Obst aus der Versenkung zu holen, so lange das noch möglich ist. 500 Bäume von insgesamt 160 verschiedenen Arten sind in San Lorenzo inzwischen versammelt und damit vorerst gerettet. 40 Apfelsorten, 30 Birnensorten, dazu ein Dutzend Kirschsorten, verschiedene Feigen, Mandeln, Pflaumen, Quitten und Mispeln. Alle waren einst verbreitet in dieser alten Pilgergegend zwischen Florenz, Rimini, Assisi und Rom, einer Umgebung regen Austauschs und deshalb von grösster Artenvielfalt.
Viele der Sorten gibt es heute nur noch hier, in Dalla Ragiones vier Hektar grossem Obstgarten. Die Welt soll so schöne und beinahe exotische, aber doch ausgesprochen einheimische und nützliche Früchte nicht einfach vergessen. Etwa wie die Florentiner Birne, die in der Renaissance bei keinem Winterschmaus des Adels fehlen durfte: «Sie wurde gebraten, roh schmeckt sie scheusslich!», sagt Dalla Ragione. Oder den nach dem wichtigsten Bauerngehilfen benannten Ochsenmaul-Apfel oder den Eselshintern-Apfel, der, wie der Name es schon sagt, dem Hinterteil des Esels gleicht, oder den besonders haltbaren Rostapfel. «Er war einfach perfekt für seine Zeit», schwärmt Dalla Ragione.
Der Obstgarten von San Lorenzo ist ein Gegenentwurf zum eintönigen Angebot in den Supermärkten.
Das Vergessen droht durchaus, wenn im Supermarkt vor allem Einheitsware verkauft wird. Drei Apfelsorten, Golden Delicious, Stark und Rome Beauty machten 70 Prozent des italienischen Marktes aus, bei den Birnen sei es ähnlich, klagt Dalla Ragione. Der Obstgarten von San Lorenzo ist der Gegenentwurf. Ein Ort der Vielfalt, der Verschiedenheit, der Obst-Pluralität, ein Kontrapunkt zum Lebensmittel-Mainstream, zu Monokultur und auch zu umstrittenen Mega-Fusionen wie der des Chemie- und Düngemittelkonzerns Bayer mit dem Saatguthersteller Monsanto. «Wir dürfen nicht zulassen, dass die Diversität, die über Jahrhunderte gegeben war, einfach verschwindet», mahnt Dalla Ragione.
Allein im Hinblick auf die Lebensmittelsicherheit sei die Bewahrung der Verschiedenheit für die Baum-Archäologin ein Gebot. Was ist, wenn sich wie bei den Bananen ein Pilz in die Monokultur einnistet? Der Frucht droht das Ende. Nur leider ist das Bemühen Dalla Ragiones ein Kampf mit ungleichen Mitteln. Während die Lebensmittelindustrie ungehindert die Bedürfnisse der Konsumenten nach perfekt geformten, in erster Linie knackigen, wurmlosen und deshalb vielfach behandelten Äpfeln stillt, steigt Isabella Dalla Ragione wie eine Privatdetektivin und nur mit einer Veredelungsschere bewaffnet durch die Hügel Umbriens auf der Suche nach den Ursprüngen.
Im Zentrum des Obstgartens steht das mittelalterliche Pfarrhaus samt Kirche. (Bild: Max Intrisano)
Vom wilden Sammeln…
«Das Schlimme ist: Oft kommen wir zu spät», sagt sie. Das «wir» ist eine Reminiszenz an ihren Vater Livio, der 2007 im Alter von 85 Jahren starb. Er kaufte 1963 das mittelalterliche Pfarrhaus samt Kirche, auf dem noch ein paar Jahrzehnte zuvor ein Pfarrer und ein Bauer gemeinsam lebten. Es war die Zeit, in der die Bauern ihre Höfe verliessen und dem Landleben einen festen Job in der Fabrik vorzogen. Industrialisierung, Wirtschaftsboom und Landflucht prägten die Zeit, aber der ehemalige Partisanen-Führer Livio Dalla Ragione siedelte sich in der Einsamkeit an und wurde deshalb für verrückt gehalten.
Das verlassene und verwunschene Pfarrhaus füllte der Vater mit überflüssig gewordenen Gegenständen, mit Töpfen, Scheren, Messern, Werkzeug, altem Krempel, das er wie in einer Puppenstube anordnete. Die Zimmer in San Lorenzo, der Kamin, die Gewehre an der Wand, der Wein, die an der Küchendecke aufgehängten Weintrauben, die alte Kapelle, die nun als Apfellager dient – man hat das Gefühl, in eine vergangene Epoche einzutauchen. Während die Masse auf funktionale, moderne Inneneinrichtung setzte, erkannte Dalla Ragione in altertümlichen Bräuchen, Gegenständen und Geschichten ein Potenzial, das den anderen nur Zeugnis für Armut war.
So ähnlich verhielt es sich auch mit den Obstbäumen. Weil sie den aufkommenden Landmaschinen im Weg standen, wurden sie oft kurzerhand gefällt. Diese Entwicklung zur rentableren, grossflächigen Landwirtschaft hatte zur Folge, dass die Multikultur sich langsam in Richtung Monokultur bewegte. Die Obstbäume verschwanden und mit ihnen zahlreiche Sorten. «Also galt es, nicht nur Objekte zu sammeln, sondern Geschichten, Geschmäcker, Gerüche und nicht zuletzt die Früchte», erzählt Isabella Dalla Ragione.
…zum methodischen Vorgehen
Die kleine Isabella eilte dem Vater bei seiner Jagd nach den Trieben und den zugehörigen Geschichten durch die Hügel nach. Heute streift die Obstarchäologin alleine durch die Gegend, fragt bei den letzten Zeitzeugen nach den vom Aussterben bedrohten Sorten. Wie durch Zufall wies eine Bäuerin sie vor Jahren auf einen Baum der Florentiner Birne in ihrem Garten hin, der sie jahrelang in Archiven hinterher geforscht hatte. Angelo, ein Bauer aus dem nahen Città di Castello zeigte ihr eines der letzten Exemplare des Ochsenmaul-Apfelbaums. Sie durfte sich Sprösslinge abschneiden und setzte sie in ihrem Garten wieder ein.
Das eher instinktive Vorgehen ihres Vaters reicherte Isabella Dalla Ragione mit Methode an. Die Agrarwissenschaftlerin forscht in historischen Dokumenten und zieht sogar die Kunst zu Rat. Die Stillleben der Renaissance eignen sich dazu besonders. Auf den Werken Piero della Francescas oder Pinturicchios erkannte Dalla Ragione alte, damals gebräuchliche Sorten wieder, ebenso bei Albrecht Dürer. Dessen «Madonna und Kind mit Birne» in den Uffizien in Florenz stellt in den Augen der Apfelarchäologin nichts weniger als einen Irrtum der Kunstgeschichte dar: Sie ist sich sicher, dass es sich nicht um eine Birne, sondern um einen Ochsenmaul-Apfel handelt.
In der alten Kirche wird heute Obst aufbewahrt. (Bild: Max Intrisano)
Aber für Rechthabereien hat Dalla Ragione kaum Zeit. Sie muss sich ganz alleine um den grossen Obstgarten kümmern, die Bäume eigenhändig aus Zisternen wässern, Gras mähen und das Obst und die Weintrauben vor dem gierigen Zugriff der Rehe, Eichhörnchen, Raben und Hornissen retten. Einen Teil der Äpfel verschenkt Dalla Ragione, der Rest wird zu Gelee verarbeitet. Eine Vogelscheuche steht etwas unbeholfen zwischen den Bäumen auf dem Hang, unter denen Gläser mit einer Mischung aus Zucker und Essig stehen, natürliche Fallen für die Hornissen. Die Bienen in ihren acht Bienenstöcken hingegen trägt Dalla Ragione förmlich auf Händen, sie sind die eigentlichen Königinnen von San Lorenzo, weil sie mit der Bestäubung das umbrische Obst-Reservat am Leben erhalten.
Was bleibt, ist die Frage, wie es eines Tages weitergehen soll. 2014 gründete Dalla Ragione eine Stiftung, deren Aufgabe die Wahrung der Baumsammlung ist. Bislang lebt die Stiftung, der sie auch vorsitzt, alleine von Spenden. Die Präsidentin hofft auf eine öffentliche Finanzierung. Selbst bekommt sie nichts für ihre Arbeit, sie hält sich mit Agronomie-Gutachten über Wasser.
Hollywood-Stars adoptieren Bäume
Ein anderes Modell ist die Adoption von Bäumen, die in vergangenen Jahren besonders in Übersee fruchtete. Die Adoptiveltern eines Apfelbaums müssen einen Beitrag leisten und können dann etwa zur Ernte selbst nach Umbrien kommen, ein Besuch pro Jahr ist Pflicht. Der Hollywood-Schauspieler Bill Pullmann, den sie bei einem Filmfestival kennen lernte, half drei Tage mit. Gérard Depardieu, der sie in Paris zum Mittagessen einlud, adoptierte die «pera briaca», die besoffene Birne.
Doch meist ist Dalla Ragione mit ihren Bäumen allein. Da wären noch die beiden Töchter, die ältere studiert Agrarwissenschaften. Aber die Mutter will lieber nicht drängeln, dass sie eines Tages das Obst-Erbe übernimmt. Die Gegenwart bietet auch einfach zu viele andere drängende Gedanken.
Ganz oben auf der Agenda von Isabella Dalla Ragione steht die Suche nach zwei verloren geglaubten Sorten, nach dem «fico rondinino di San Sepolcro», der Schwalben-Feige, und nach der «pera carovella», der Carovella-Birne. Sie muss jetzt schnell wieder los in die Hügel, es könnte sonst zu spät sein.