Die Ohnmacht und Kraft der Wörter

Das Rätoromanische gehört zu den Markenzeichen Graubündens. Die vierte Landessprache hat neben ihrer Kraft auch ihre Tücken.

Fremdes Getier auf Bündner Boden. Lamas weiden bei St. Antönien. (Bild: Tanja Demarmels)

Das Rätoromanische gehört zu den Markenzeichen Graubündens. Die vierte Landessprache hat neben ihrer Kraft auch ihre Tücken.

Ein rätoromanisches Sprichwort sagt: Nicht einmal der Herrgott weiss, was ein Bündner denkt. Kein Wunder: Graubünden ist der einzige dreisprachige Kanton der Schweiz und darum kulturell sehr vielfältig. Allerdings haben die Bündner diese Vielfalt nie als kulturellen Wert begriffen, der ­ihren Teil des Alpenraums – neben der stimulierenden Landschaft – so attraktiv macht.

Das zeigt sich schon in der touristischen Vermarktung Graubündens. Da kommt den Verantwortlichen nichts Schlaueres in den Sinn, als das «ü» in der Regionenmarke Graubünden durch stilisierte Steinbockhörner wiederzugeben. Der Wohlklang des romanischen Kantonsnamen Grischun oder auch der italienischen Form Grigioni wurde ignoriert. Dass dieser «vitale Gegenentwurf der Disneyfikation von Ferienregionen», wie die Touristiker ihre Markenentwicklung selber bezeichnen, gerade die Sprachenvielfalt unberücksichtigt lässt, zeugt von der Ignoranz der Marketingstrategen. Und es zeigt, dass Mehrheiten häufig eine Sensibilität gegenüber Minderheiten vermissen lassen.

Eine Reise ins Unterengadin

Auch Chur, wo die meisten Rätoromanen leben, gibt sich nur deutschsprachig. Wenn wir von Basel anreisen und in der Kantonshauptstadt einen ersten Zwischenhalt machen, so sehen wir höchstens auf der Fassade eines dem Bahnhof gegenüberliegenden Gebäudes die Reklame eines Kaffeeproduzenten aus dem Engadin «Adüna bun – cafè Grischun».

Wenn wir anschliessend durch den Vereina-Tunnel ins Unterengadin weiterreisen, wird uns am Ausgang zuerst auf Deutsch, dann auf Vallader angekündigt, dass wir uns nun im Engadin befinden. In Scuol nehmen wir das Postauto nach Sent, wo es über dem Chauffeur heisst: «Vos chauffeur Josef Sepmeister giavischa a vus in bun viadi.» Der Chauffeur kommt zwar aus dem benachbarten Südtirol und spricht kaum Romanisch, aber die Postautobetriebe haben im rätoromanischen Sprachgebiet konsequent alles in der Standardsprache Rumantsch Grischun angeschrieben.

Rätoromanisch wird vielerorts nur noch in der Familie gesprochen.

Wir sind nun in einem Bündner Tal angelangt, wo das Romanische die am meisten benutzte Alltagssprache ist. Für den Grossteil der Bewohner stellt sie also nicht die vierte Landessprache dar, sondern die erste oder zumindest die zweite neben dem Deutschen. Es ist die Variante Vallader, die in allen Unterengadiner ­Gemeinden die einzige Schulsprache bis zur vierten Klasse ist und in allen ­Gemeinden Amtssprache. Seit der Annahme des Bündner Sprachengesetzes 2007 ist definiert, dass eine Gemeinde mit mindestens 40 Prozent Romanischsprachigen als romanische Gemeinde gilt.

Zankapfel Rumantsch Grischun

Die vom Zürcher Linguisten Heinrich Schmid vor 30 Jahren geschaffene Einheitsvariante Rumantsch Grischun für die fünf unterschiedlichen jahrhundertealten Schriftidiome hat es erst ermöglicht, dass ein im ganzen Kanton tätiger öffentlicher Betrieb wie das Postautowesen seine Dienstleistungen ebenfalls auf Romanisch anschreibt. Auch die Rhätische Bahn heisst in Graubünden seit einigen Jahren Viafier Retica oder Ferrovia Retica.

Dass die Bahn in ihren mündlichen Durchsagen die lokalen Idiome berücksichtigt, lässt sich als Respekt ­gegenüber den einheimischen Zugs­benützern erklären. Nachdem sich nämlich das Rumantsch Grischun in den 80er- und 90er-Jahren sukzes­sive sprachlich konsolidieren konnte und mit Mühe die politische Aner­kennung fand, gab es plötzlich einen Quantensprung. Die Politik entdeckte, dass sie mit der Standardsprache Geld sparen konnte. Wurden die Lehrmittel für die romanischen Schulen früher in fünf verschiedenen Fassungen konzipiert und gedruckt, sollten mit der Einführung von Rumantsch Grischun in der Primarschule modernere Lehrmittel geschaffen werden.

Diese neuen und sehr guten Lehrmittel gibt es unterdessen, doch Gemeinden oder auch ganze Talschaften wie das Münstertal haben die Alphabetisierung in Rumantsch Grischun wieder rückgängig gemacht zugunsten der regionalen Idiome. Das Unbehagen eines Teils der Bevölkerung gegenüber der Tatsache, dass ihre Kinder eine Schriftsprache erlernen, die sie selbst nicht beherrschen, wurde von populistischen Kräften ausgenutzt. Damit erlitt die überregionale Schriftsprache einen herben Rückschlag. Doch wird sich eine pragmatische Lösung mit einer teilweisen Einführung des Rumantsch Grischun durchsetzen, da die Romanen für die Schriftsprache darauf angewiesen sind.

Im Dornröschenschlaf

Dieses Fiasko hätte nicht stattfinden müssen. Wenn die Dachorganisation der Rätoromanen, die Lia Rumantscha, in den letzten Jahren das ­Rumantsch Grischun den Romanen nähergebracht hätte, so wäre die Reaktion auf die Einführung als Schulsprache niemals so heftig ausgefallen. Doch ausser der Entwicklung der Sprache mit der ständigen Schaffung von neuen Wörtern – was für das Deutsche die Duden-Redaktion in Mannheim leistet – hat die Sprach­organisation sich nicht um die Akzeptanz der Einheitsschriftsprache gekümmert.

Als eine der wichtigsten Errungenschaften während seiner Amtszeit führt der abtretende Präsident an, den finanziellen Bankrott abgewendet und sogar Reserven angelegt zu haben. Eine Sprachförderungsinstitution müsste aber als Lobbyorganisa­tion auftreten und dafür sorgen, dass mehr Gelder für ihre Aufgaben bereitgestellt werden, wenn die Aufgaben dies verlangen. Sogar die einmalige Konstellation in Bundesbern mit der Romanisch sprechenden Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf und den beiden Rätoromanen Christoffel Brändli als damaligem Nationalratspräsidenten und Corina Casanova als Bundeskanzlerin wurde verpasst. Wer weiss, ob die Lia Rumantscha unter dem kürzlich gewählten neuen Präsidenten sich wieder auf ihre ursprüngliche Funktion als Lobby-Organisation besinnt?

Etikettenschwindel

Die innovative Sprachförderungspolitik seit den 80er-Jahren war davon ausgegangen, dass eine Minderheitssprache nur überleben kann, wenn sie in allen Bereichen des Alltags ­angewendet wird. Der Sprachkorpus wurde so ausgebaut, dass auch die Sportartikelverkäuferin und der Treuhänder ihre Arbeitswelt auf ­Romanisch bestreiten konnten. Der konsequent zweisprachig verfasste Geschäftsbericht der Bergbahnen Pendicularas Motta Naluns Scuol-Ftan-Sent ist ein Beispiel dafür, wie das Romanische auch in der Wirtschaft seinen Platz findet.

Der abtretende Präsident der Lia Rumantscha sagte kürzlich: «Wichtig ist aber vor allem, dass die Schlüsseldomänen Familie und Schule weiterhin romanisch bleiben.» Diese Aussage weist in eine resignative Richtung. Wenn sogar die Sprachpolitiker sich damit zufrieden geben, dass die romanische Sprache nur im persönlichen Bereich verwendet wird, kann eine Minderheitssprache nicht überleben!

Im Oberengadin ist das Rätoromanische zwar noch Schulsprache – aus­ser in St. Moritz –, doch der Gebrauch ist auf die Familie eingeschränkt. Die überbordenden Immobilienpreise haben die dort ansässigen Romanen nicht nur in ein kulturelles, sondern auch in ein wirtschaftliches Ghetto gedrängt. Das Réduit der Wohlhabenden hat sich in den letzten Jahren zu einer Investitionslandschaft der internationalen Finanzwelt entwickelt. Fast provokativ erscheint unter diesen Umständen, dass sich eines der hochstehenden Musikangebote in St. Moritz «Festival da Jazz» nennt oder einige renommierte Galerien eine «not da l’art» (Nacht der Kunst) organisieren. Hier zeigt sich erschreckend, wie die ursprünglichen kulturellen Wurzeln nur noch als Verpackung oder Inszenierung überleben.

Olimpiada d’inviern 2022?

St. Moritz kandidierte schon 1980 für eine in Graubünden auszutragende Winterolympiade. Bei der von der Bündner Bevölkerung mit 77 Prozent abgelehnten Kandidatur war die romanische Sprache und Kultur ein wichtiges Thema gewesen. Gegner wiesen auf die Gefahr hin, dass solche Mega-Events eine Minderheitssprache noch mehr bedrängen würden. Befürworter betonten das Gegenteil und sahen die Chance, die Sprache in die Welt hinaustragen zu können (wie es seinerzeit den Katalanen bei den Olympischen Sommerspielen in Barcelona vorschwebte).

Doch seit der Ski-WM 2003 in St. Moritz, als die am Eröffnungstag von den Dorfkindern dargestellte ­romanische Schellenursli-Paraphrase im englischen Gesang von DJ Bobo unterging, ist allen klar, dass auch hier das Romanische nur Alibifunk­tion haben würde. Anders als vor 32 Jahren ist aber in der jetzigen Olympia-Diskussion Sprache und Kultur kein Thema mehr. Wir stellen jedoch fest, dass in den romanischen Gebieten die kulturelle Identität auch bei der jüngeren Generation stark mit der Muttersprache verbunden ist.

Wörter statt Winterspiele

In der Musikszene zeigt sich exemplarisch, dass die einheimischen Musikgruppen sich stark mit den eigenen Wurzeln konfrontieren und sich damit der Globalisierung widersetzen. Wenn Mario Pacchioli zweisprachig singt «ils plaids emportan nuot – c’est d’où je viens que je suis fier» (Die Wörter sind unwichtig – ich bin stolz auf meine Herkunft) heisst das für viele Mitromanen, dass sie im Bewusstsein ihrer Herkunft mit Zuversicht in die auch romanisch geprägte Zukunft blicken können. Dazu sind zwar auch die Wörter nötig, aber sicher keine Olympischen Winterspiele!

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04.01.13

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