Gefühle sind nicht nur Ausdruck unserer individuellen Befindlichkeit, sondern ein Spiegel gesellschaftspolitischer Entwicklungen. In Basel, Freiburg und Strassburg ist im Januar ein dreiwöchiges Festival angelaufen, das sich dem Thema annähert.
Sind Sie deprimiert? Fühlen Sie sich antriebslos oder gar verzweifelt? Sind Sie oft wütend?
Die Affect Studies – die Wissenschaft der Gefühle – gehen davon aus, dass Gefühle nicht nur Ausdruck von individuellen Befindlichkeiten, Erlebnissen oder Sehnsüchten sind, sondern ein kulturelles und gesellschaftspolitisches Phänomen. Kurz gesagt: Eine Depression ist mehr als eine Depression. Eine Depression ist nicht nur auf eine subjektive Psychostruktur zurückzuführen, sondern eine Depression kann auch politisch sein.
In den USA zum Beispiel untersuchen Forscherinnen und Forscher seit Langem das «Post Traumatic Slave Syndrome». Der Forschungsstand: Die Erfahrung der Sklaverei wirkt bis in die heutigen Generationen schwarzer Menschen fort – und manifestiert sich zum Beispiel in Form von Depressionen, mangelndem Selbstwertgefühl oder Gefühlen der Wut und Aggression. Im Unterschied zu psychologischen oder medizinischen Einschätzungen verstehen die Affect Studies solche Gefühle nicht einfach als Krankheit, sondern sehen sie als etwas, das soziale und politische Bedeutung hat und vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Machtverhältnisse artikuliert werden sollte.
Das trinationale Festival «Art Affects. Politiken der Gefühle» findet in Strassburg, Freiburg i.Br. und vom 17. bis 21. Februar auch in Basel statt. In Form eines Wissenschafts- und Kulturkarussells wird der Zusammenhang von individuellen Gefühlen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen ausgeleuchtet. Um einen Dialog zwischen Kultur und Wissenschaft zu initiieren und zu fördern hat das vierköpfige Organisationsteam eine Fülle von vielversprechenden Veranstaltungsformaten aus Literatur, Theater, Film, Musik und Performances ins Leben gerufen. In Basel wird das Festival vom Theater Basel, dem Literaturhaus und dem Zentrum Gender Studies der Universität Basel getragen. www.art-affects.net/de
Depression als kollektiver Widerstand
Daraus ergibt sich auch, dass die Affect Studies Gefühle wie Depressionen oder Versagensängste aus dem privaten Versteck der Psychotherapien und Arztpraxen ans Licht der Öffentlichkeit bringen wollen. Gefühlsforscherinnen wie Ann Cvetkovich sehen im «depressiven Selbst» auch eine Art Überlebensstrategie, eine Praxis des Widerstands, mit der Menschen sich gegen die Anforderungen einer aus den Fugen geratenen Leistungsgesellschaft aufbäumen. Cvetkovich geht sogar so weit, über Depression als Ressource kollektiven Widerstandes nachzudenken. Denn wenn Gefühle keine rein persönliche Angelegenheit sind, dann reicht es auch nicht, sich persönlich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Gefühle, die den meisten von uns als rein persönliche Angelegenheit erscheinen, werden von der Gefühlsforschung in eine politische und auch künstlerische Dimension übersetzt. Das heisst auch, dass die gewohnte Trennung von Innen- und Aussenwelt hinterfragt wird. Das Innerliche wird zum Aussen – diese Perspektive haben seit den 1970er-Jahren auch schon feministische Theoretikerinnen eröffnet mit ihrem Slogan, das Private sei politisch. Frauen haben seit Langem darüber nachgedacht, in welcher Weise ihre subjektiven Gefühle mit gesellschaftlichen Strukturen verbunden sind. Insofern ist der neue Affect-Hype keine vollkommen neue Denkschule, sondern knüpft an vorhandene Arbeiten an.
Die Idee und das Versprechen des Glücks tyrannisieren uns seit Jahrhunderten.
Sarah Ahmed zum Beispiel erforscht die Rolle von Glück beziehungsweise Glücksversprechen. Mit ihrem Buch «The Promise of Happiness» hat sie eine radikal kritische Analyse vorgelegt, in der sie die Idee des Glücks einer kulturwissenschaftlichen Untersuchung unterzieht. Sie schreibt: Die Idee und das Versprechen des Glücks tyrannisieren uns nicht nur schon seit Hunderten von Jahren, die Marke «Glück» gilt in der westlichen Welt auch als Ausdruck für zivilisatorischen Fortschritt. Je fortschrittlicher eine Gesellschaft, desto glücklicher ist sie – so die weit verbreitete Glücksformel.
Ahmed weist auf die Kehrseite dieser Annahmen hin und kommt zu dem Schluss, dass die vorherrschenden Glückskonzepte bestimmte Normen herstellen: Wer unglücklich ist, macht etwas falsch. Glück wird zum Beispiel mit einer ganz bestimmten Familienform assoziiert, nämlich mit einer weissen, heterosexuellen Kleinfamilie. Mit anderen Worten: Unsere Glücksvorstellungen sind nicht harmlos, sondern sie definieren, was als glücklich gilt und damit auch, wer zur Mehrheitsgesellschaft gehört und wer nicht.
Am Beispiel der Hausfrau zeigt Ahmed, wie die abendländischen Glückskonzepte mit Geschlechternormen und Bürgerlichkeit verbunden sind. So gehört das Bild der glücklichen Mutter oder Hausfrau, der glücklichen Ehe zu einer Kultur-Erzählung, in der Frauen traditionell die Aufgabe zugeordnet wird, Glück herzustellen. Sie sind zuständig für den privaten Bereich. Frauen sind für das private Familienglück als Domäne gegen die feindliche Welt dort draussen verantwortlich.
Gesellschaftliche Machtstrukturen
Ahmed zeigt jedoch, dass dieser Glücks-Job nicht von allen Frauen gleichermassen erwartet oder ihnen überhaupt zugetraut wurde und wird: Afroamerikanischen Frauen etwa wurde lange Zeit das vorherrschende Familienideal weder zugestanden noch zugetraut – in den Augen der weissen, bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft galten schwarze Mütter als verdächtig. Es überrascht deshalb nicht, dass bei der Wahl Barack Obamas sein Familienleben unter besonderer Beobachtung stand: Hier musste eine schwarze Familie öffentlich beweisen, dass auch sie eine «schrecklich nette» und glückliche Familie sein konnte. Michelle Obama gab ihre Erwerbstätigkeit auf und kündigte vorauseilend an, künftig «mom in chief», also befehlshabende Mama zu sein. Die Obamas haben nicht zuletzt den Beweis erbringen müssen, dass auch Schwarze das Familienglück des Otto Normalverbrauchers beherrschen. Ähnliches gilt in Europa für Mütter mit Migrationshintergrund, die oft genug unter dem Generalverdacht stehen, ihren Kindern kein «anständiges» Familienglück bieten zu können.
Glücksvorstellungen definieren soziale Normen. Hinter unseren vermeintlich persönlichen Glücksvorstellungen verbergen sich Schauplätze gesellschaftlicher Machtstrukturen. Die Affect Studies thematisieren Gefühle wie Wut, Aggression, Angst oder Schmerz in Zusammenhang mit Arbeitsverhältnissen, mit Sexualität, Migration oder Familie. Selbst im Schmerzerleben lassen sich grosse kulturell bedingte Unterschiede feststellen. Das legt die Einsicht nahe, dass auch unser Fühlen zu einem grossen Teil erlernt und eingeübt wird.
Kunst ist ein Ort, der eine Begegnung mit nicht ausbuchstabierten Gefühlen ermöglicht.
Bezeichnend für die Affect Studies ist, dass sie die Grenze zwischen Wissenschaft, Kunst und Biografischem auflösen – so schreiben einige Forscherinnen aus einer radikal subjektiven Perspektive (wie etwa Ann Cvetkovich in ihren «Depression Journals»). Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Analyse und Sprache bringen Literatur, Musik oder Theater emotionale Erfahrungen in ihrer Ambivalenz und Uneindeutigkeit zum Ausdruck. Kunst ist ein Ort, der auch eine Begegnung mit noch nicht ausbuchstabierten Gefühlen ermöglicht. Die Unterscheidung von Theorie und künstlerischer oder biografischer Praxis wird gezielt aufgehoben und infrage gestellt.
Diese Durchkreuzung ist auch das Thema des trinationalen Festivals «Art Affects», das vom 17. bis 21. Februar unter anderem in Basel stattfindet (siehe Box). «Gerade sogenannte ’negative Gefühle‘ können ein politisches Potenzial entfalten. Denn wenn Menschen erkennen, dass die Gründe ihres Unglücklichseins nicht einem rein persönlichen Versagen entspringen, sondern auch in den äusseren Lebensbedingungen wurzeln, können politische Koalitionen entstehen», erklärt Mitveranstalterin Andrea Zimmermann.
In Basel werden sich kommende Woche unter anderem die Schriftstellerin Nino Haratischwili und die NZZ-Autorin Andrea Köhler mit dem Gefühl der Scham beschäftigen und auch hier den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Strukturen und individuellem Erleben beleuchten. Einen speziellen Schwerpunkt setzt das Theater Basel mit der Betrachtung einer emotional besonders aufgeladenen Struktur: der Familie. Ausgehend von szenischen Lesungen und Performances werden Familienbande auf gegenwärtige Veränderungen hin untersucht. Aus dem Bühnenraum hinaus in den Stadtraum lädt der interaktive Spaziergang «Schlafende Vögel»: Die Zuschauer begegnen hier ihrer Stadt mit ganz neuen Gefühlen.
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*Franziska Schutzbach ist Genderforscherin und arbeitet am Zentrum Gender Studies der Uni Basel.