Einsparungen beim Pflegepersonal gefährden Patienten in Spitälern.
Ein Patient in einem Schweizer Akutspital wird nach einer Operation am offenen Herzen nach einer Woche in die Rehabilitation entlassen. Noch am selben Tag muss er in einem alarmierenden Gesundheitszustand ins Spital zurückverlegt werden. Zur Behandlung und Überwachung wird er direkt auf der Intensivpflegestation aufgenommen.
Bei diesem Szenario könnte es sich um eine unvorhersehbare Komplikation handeln, die dem Krankheitsbild des Patienten entspricht. Es könnte aber auch eine Folge vermeidbarer Fehlleistungen im Behandlungsprozess eines Spitals sein.
Die Pflege in der Schweiz weist im europäischen Vergleich eine sehr gute Qualität auf, wie das RN4CAST-Forschungsprojekt des Institutes für Pflegewissenschaft der Universität Basel zeigt. Diese Studie untersuchte Zusammenhänge zwischen dem Bestand sowie Ausbildungsgrad des Pflegepersonals und der Patientensicherheit und Pflegequalität in zwölf europäischen Ländern.
Während in der Schweiz eine Pflegefachperson derzeit im Schnitt sechs Patienten betreut, pflegt eine Pflegefachperson in Deutschland im Durchschnitt bereits zehn Patienten. Dennoch konnten die Forscher des Instituts für Pflegewissenschaft in diesem Zusammenhang nachweisen, dass aufgrund von Einsparungen beim Pflegepersonal auch in Schweizer Spitälern Qualitätseinbussen zu beobachten sind: Patienten sind häufiger von Komplikationen wie Lungenentzündungen und Blutvergiftungen, Wundliegen oder Fehlern in der Medikamentenverabreichung betroffen. In den USA wurde festgestellt, dass eine Reduktion des Pflegepersonals zu mehr Komplikationen führt und häufiger Patienten sterben. Schweizer Pflegefachleute befürchten, dass durch die per Januar 2012 gesamtschweizerisch eingeführten Fallpauschalen (DRG) dieser Negativtrend auch bei uns beschleunigt wird.
Das schweizerische Gesundheitssystem steht durch die Jahr für Jahr steigenden Kosten im Fokus des öffentlichen Interesses. Hier verspricht sich die Politik mit der Einführung der Fallpauschalen eine kostendämpfende Wirkung. In dem aus Deutschland adaptierten Tarifsystem SwissDRG erhalten die Spitäler seither für jede Diagnose einen Festbetrag vergütet, unabhängig vom effektiven Krankheitsverlauf des Patienten und dem damit verbundenen Pflegeaufwand. Routinebehandlungen werden aus Kosteneinsparungsgründen zunehmend in den ambulanten Bereich verlagert. Die Konsequenzen tragen dabei nicht nur die Spitäler und ihre Angestellten, sondern auch die Patienten. Nach der Einführung des DRG-Systems in Deutschland wurde beobachtet, dass die Spitaleintritte um fast 20 Prozent zugenommen haben. In der Schweiz ging die Aufenthaltsdauer der Patienten im Spital gemäss Bundesamt für Statistik von 10,2 Tagen im Jahr 1998 auf 7,7 Tage im Jahre 2011 zurück. In Deutschland wurden in den letzten Jahren mehrere Zehntausend Stellen Pflegepersonal abgebaut.
In einer internationalen Studie kommt die renommierte Forscherin Professor Linda Aiken überdies zum Befund, dass in Deutschland neben dem quantitativen Stellenabbau qualifizierte Fachkräfte zunehmend durch weniger qualifiziertes Personal ersetzt werden. Damit wiederum erhöht sich die Arbeitsbelastung für die verbleibenden Fachkräfte, weil weniger qualifizierte Pflegefachkräfte verfügbar sind und diese in kürzerer Zeit mehr schwerkranke Patienten betreuen müssen.
Im Zuge der SwissDRG-Einführung wird in einer vom Schweizer Nationalfonds unterstützten Studie in fünf grossen Spitälern untersucht, wie sich die Fallpauschalen auf die Arbeitsbedingungen der Pflege auswirken. Diese Studie wird wichtige Informationen liefern, um die Qualität und damit auch die Wirksamkeit von Pflegeleistungen weiterhin sicherzustellen. Ziel muss es sein, das Schweizer Gesundheitssystem effizienter zu gestalten, ohne jedoch Abstriche in der derzeit qualitativ hochstehenden Pflege in Schweizer Akutspitälern zu riskieren und Patienten zu gefährden.
Weitere Informationen: www.swissdrg.org
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 21.12.12