Bandenkriege und Polizeikorruption halten die französische Hafenmetropole Marseille in Atem. Hintergrund ist die explosive Lage in den Banlieue-Zonen, vor denen die nächste EU-Kulturhauptstadt gerne die Augen verschliesst.
Der Vieux Port ist eine einzige Baustelle: Marseille putzt sich als europäische Kulturhauptstadt des nächsten Jahres heraus. Im Café OM, wo der Fussballklub Olympique Marseille seine Siege feiert, geniesst die Stadtjugend die Herbstsonne und überfliegt die neuste Schlagzeile im Lokalblatt La Provence: «Flics am Tag, Ganoven in der Nacht».
Dreissig Mitglieder der Nord-Brigade – der Drogenpatrouille in den nördlichen Einwanderervierteln – wurden der Delikte überführt, die sie an sich verhindern sollten: Dealen, Klauen, Erpressen. In der doppelten Decke ihrer Büros fanden die Ermittler Hasch-Pakete, Schmuckstücke und Bargeldbündel. Angesichts dieses neuen Polizeiskandals werde man «von Schwindel erfasst», entrüstet sich selbst La Provence, die sich von Marseilles Sitten doch einiges gewohnt sein müsste.
Zwanzig Milieumorde in der Kulturhauptstadt
Frankreichs Innenminister Manuel Valls machte kurzen Prozess und löste die Nord-Brigade auf. Die Autorität stellte er damit aber nicht wieder her: Am Donnerstag durchlöcherten zwei geschminkte Killer vor dem Café Derby einen frühpensionierten Ganoven mit elf Kugeln. Es war der zwanzigste Milieumord in diesem Jahr. Willkommen in der Kulturhauptstadt!
Auch der Unterwelt-Anwalt Frédéric Monneret schüttelt nur den Kopf. «Früher galt im Marseiller Hafen noch eine Art Ehrenkodex», meint er in seinem vornehmen Büro, das eine Ferrari-Imitation schmückt. «Die Banditen heckten Pläne aus, bei denen sie Opfer so wie möglich zu vermeiden suchten. Heute dominieren in den Vorstädten Banden, die schon für ein paar Gramm Shit mit Kriegswaffen drauflosballern, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden.»
Und was hält der Verteidiger stadtbekannter Gauner von den Flics der Nord-Brigade, die natürlich auch zu seinen Klienten zählen? «Mit dem Geld, das sie den Dealern abnahmen, bezahlten sie ihre Spitzel», bemüht sich der Anwalt. Aber verkauften sie den beschlagnahmten Stoff nicht auch selber weiter? Der Advokat in Nadelstreifen zwirbelt sein Schnäuzchen: «Diese jungen Polizisten verloren den Kopf. Sie kamen mit der extremen Spannung, der extremen Gewalt in der Nordzone nicht zurecht.»
Armeeeinsatz gegen Drogenbanden?
Das tun auch andere nicht. Samia Ghali, die Bürgermeisterin eines Nordbezirks, verlangte diesen Sommer sogar einen Armeeeinsatz, um die Wohnblöcke von den Drogenbanden zu befreien. Das finden in Marseille viele für übertrieben. Heute reicht nicht mal die Metro in die Nordquartiere. Nur eine Buslinie, die 25, verbindet dieses urbane Niemandsland mit der Aussenwelt. Nach einer halben Stunde Fahrt steigt die letzte weisse Passantin aus; im Vorbeigehen raumt sie dem Auswärtigen noch ungefragt zu: «Passen Sie auf!»
In der Ferne nehmen sich gewaltige Wohnblöcke wie die weissen Kalkfelsen aus, die schon Cézanne hier an der Bucht von L’Estaque gemalt hatte. Das war, bevor die Cité La Castellane 1970 für die Werft- und Raffineriearbeiter aus Algerien oder Senegal aus dem Boden gestampft wurde. Wer an ihrer Haltestelle aussteigt, fühlt sich gleich beobachtet. Mindestens ein «chouffeur» überwacht den Eingang in die Cité, an ein Autowrack gelehnt. Andere Wachposten der Drogenbanden finden sich vielleicht unter den Gruppen Jugendlicher, die im Schatten vierzehnstöckiger Wohntürme herumhängen – die Jugendarbeitslosigkeit beträgt hier offiziell 49 Prozent.
Bei allem Trödeln: In La Castellane sind alle auf der Hut. Ein Junger zeichnet mit seinem Velo Bremsspuren in den Sandplatz, der wohl einmal fürs Pétanquespiel gedacht war. In Griffweite eines Papierkorbs und zweier Handys sitzt einer allein da, den Besucher mit einem unbeteiligten Blick verfolgend. Ein «charbonneur», wie man die eigentlichen Drogenverkäufer hier im Innern der Cité nennt?
Mit Dealen wird man nicht alt
Emmanuel Daher vom «Sozial- und Kulturzentrum La Castellane» schweigt vielsagend. Der lockere Sozialarbeiter aus dem Libanon ignoriert die Dealer wie alle anderen: Man lässt sich in Ruhe und geht sich aus dem Weg. Nur ab und zu muss Emmanuel eingreifen. Letzthin habe er einem Jugendlichen eine kaputte Kalaschnikow abgenommen, meint Manu, der auch mit der Polizei nichts zu tun haben will. Er ist zuständig für Jugendprävention, anders gesagt: «Ich schaue, dass sie keine Dummheiten machen.» Gemeint ist der Drogenhandel. «Mit Dealen wirst du nicht alt», sagt er seinen Schützlingen jeweils. «Wenn du mal eine Familie gründen willst, musst du etwas weiter denken, zuerst eine richtige Ausbildung absolvieren.»
Das Argument mit der Familie ziehe noch am ehesten, meint Manu. Aber es zieht nicht immer. Dealen ist mit Abstand der lukrativste Wirtschaftszweig in La Castellane, wo die Hälfte der 7000 Einwohner keine Steuern zahlt, weil sie dafür zu wenig verdient. Als Wächter verdiene man etwa 50 Euro, als Verkäufer etwa 100 Euro am Tag, meint der Sozialarbeiter. In der Cité gebe es, so weiss Manu, neun Drogenbanden. Neun Arbeitgeber. Die Kids kommen schnell auf den Geschmack. Und auf die Gewalt. «Für 80 Euro kriegst du heute überall eine Neun-Millimeter.» Das ist eine Pistole, erklärt Manu. Und: «Mit neun Millimetern kannst du einen töten.»
Der Vorbeuger tut, was er kann. Theater, Tennis, Molière, also nicht nur Rap oder Fussball. Diesen Sommer unternahm Manu mit einer Gruppe sogar eine Reise nach Deutschland und Holland. Sein eigenes Integrationsrezept: «70 Prozent normale Jugendliche, 30 Prozent schwierige.»
Vorbild Zinedine Zidane
Aber die Schwierigen werden immer zahlreicher. «Die Wirtschaftskrise trifft die Ärmsten besonders hart», meint Zentrumsleiter Nassim Khelladi, aufrecht nach zwanzig Dienstjahren in La Castellane. «Das steigert die Prekarität, die Spannungen in der Familie, die eheliche Gewalt – und das überträgt sich auf die Jüngsten. Und wenn sie sich im Stadtzentrum für ein dreimonatiges Stage bewerben, werden sie abgewiesen, sobald sie sagen, sie kämen aus La Castellane.»
Nicht jeder schafft es wie Zinedine Zidane. Der Ex-Fussballer wuchs gleich neben dem Sozialzentrum auf, in einem langgezogenen, aber nur dreistöckigen Block, vor dem jetzt eine Handvoll Kleinkinder mit einem roten Ballon spielt. «Zu Beginn der achtziger Jahre, als Zidane hier zur Schule ging, gab es hier bereits einen regen Drogenhandel; man musste aufpassen, nicht auf die Spritzen zu treten», erzählt Fremdenführer Manu, der sein Fussballidol das letzte Mal 2008 traf: Damals stiftete Zidane seinem Viertel mehrere Computer und Informatikausbildungen.
Manu erinnert sich: «Als der Heroin-Handel damals über Hand nahm, schassten die Einwohner die Dealer. Die Polizei hätte das niemals geschafft. Die heutigen Drogenbosse wissen das; sie lassen uns heute in Ruhe, um in Ruhe gelassen zu werden.»
Endlich reagieren die Behörden
Vielleicht will die Polizei die Dealer auch gar nicht aus La Castellane vertreiben, denkt Manu: Unten in Marseille sei man froh, dass der Drogenhandel in den entfernten Cités stattfinde; so greife er nicht auf die Stadt über. Nach neusten Presseberichten wusste die Polizeihierarchie seit 2009 von der Korruption in der Nord-Brigade. Niemand schritt ein. Warum auch? Die Gauner-Flics sorgten mit ihren Methoden dafür, dass die Dealer in der Nordzone blieben. Damit war allen gedient. Das Ganze flog erst auf, als sich die mörderischen Vendettas bis nach Marseille ausdehnten. Da mussten die Behörden endlich reagieren. Jetzt wird die Nord-Brigade neu organisiert.
Ob das in La Castellane etwas verändern wird? Manu zuckt die Schultern. Er hat nun Wichtigeres zu tun: Mit ein paar Jungs baut er gerade einen Garten. Den ersten in La Castellane.