Die Retterin im langen Rock

Am 2. August 2014 jährt sich zum 70. Mal die «Liquidation» des sogenannten Zigeunerfamilienlagers in Auschwitz-Birkenau, wo SS-Angehörige alle Sinti und Roma ermordeten. Die heute fast 90 Jahre alte Romni Noncia aus Polen hat über 50 Kinder gerettet. So auch Pflegesohn Parno, der über seine Rettung berichtet.

In Auschwitz wurden ab 1943 ganze Roma-Familien in einem eigenen «Zigeunerfamilienlager» gefangen gehalten. Der Mord an allen Sinti und Roma von der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wird als Tag des Gedenkens an den Roma-Genozid begangen. (Bild: Karol Gierlinski, n-ost)

Am 2. August 2014 jährt sich die «Liquidation» des sogenannten Zigeunerfamilienlagers in Auschwitz-Birkenau zum 70. Mal. SS-Angehörige ermordeten dort in der Nacht auf den 3. August 1944 alle Sinti und Roma. Die heute fast 90 Jahre alte Romni Noncia aus Polen hat über 50 Kinder vor der Ermordung durch die Nazis bewahrt. So auch Pflegesohn Parno, der über seine Rettung berichtet.

Es ist dunkel im Wagen. Die Luft ist so dick, wie sie nur sein kann, wenn Dutzende von Menschen tagelang zusammengepfercht unterwegs sind. Plötzlich hält der Zug, die Tür geht auf. Bahnarbeiter werfen die Leichen aus dem Wagen, verteilen Trinkwasser. Eine junge Mutter entscheidet schnell. Sie drückt einer der Arbeiterinnen draussen, einem Mädchen in einem langen Rock, ihren kleinen Sohn Parno in die Arme.

Das Mädchen schleicht mit dem Kind unter den Waggons durch. Die Schiebetür knallt zu. Der Zug fährt weiter. Nach Auschwitz.

«Es war Zufall», sagt Karol Gierlinski. «Der richtige Zeitpunkt, der richtige Ort, die richtige Person.» Der 76-Jährige sitzt in seiner Wohnung in Lipiny, einem kleinen Ort südlich von Warschau. Gierlinski ist Bildhauer, Maler und Dichter. Und Zigeuner, so stellt er sich selbst vor. «Es gibt nicht nur Roma, sondern auch Lovari oder Kelderasch», sagt er. «Zigeuner» findet er deshalb als Oberbegriff ganz nützlich. Er selbst ist Sinti. Und Karol heisst er nur in der Welt der Nicht-Roma. Unter den Sinti heisst er Parno.

Gedenktag an den Roma-Genozid

«Es war Zufall, dass ich leben durfte», wiederholt er. «Aber vor allem war es die Frau, die mir ein zweites Leben geschenkt hat.» Alfreda Markowska, unter den Roma einfach Noncia. Sie war das Mädchen im langen Rock, sie rettete Parno, der damals vier Jahre alt war. Und nicht nur ihn. Dutzende Kinder bewahrte Noncia während der Kriegsjahre vor dem Tod.

Der Holocaust traf nicht nur die Juden, sondern auch Sinti und Roma. Denn auch sie wurden durch die Nürnberger Gesetze als minderwertig klassifiziert. Nach 1939 wurden tausende Roma aus ganz Europa in Ghettos im besetzten Polen gebracht und dann in den Konzentrations- und Vernichtungslagern getötet. Die Zahl der Opfer liegt Schätzungen zufolge zwischen 250’000 und zwei Millionen.

Das Symbol des Holocausts an den Roma ist Auschwitz. Ganze Familien wurden dort ab 1943 in einem eigenen «Zigeunerfamilienlager» gefangen gehalten. In der Nacht vom 2. auf den 3. August ermordeten SS-Angehörige dort alle Sinti und Roma. Der Jahrestag dieser Liquidierung wird als Tag des Gedenkens an den Roma-Genozid begangen.

Vom Opfer zur Retterin

Dass die Romni Noncia einige Kinder vor dem Tod bewahren konnte, grenzt an ein Wunder. Ihre ganze Familie – rund 80 Menschen – hatte sie verloren. Die Deutschen hatten sie eines Tages im Jahre 1942 im Wald erschossen, wo die Familie gerade kampierte. Noncia überlebte, weil sie am Tag unterwegs war, auf der Suche nach Essen für die Familie. Eine Frau im Dorf beim Wald versteckte sie in ihrer Scheune.

Es war ein ebenso glücklicher Zufall, dass auch Noncias Ehemann Gucio überlebte. Kurz bevor die deutschen Soldaten das Lager entdeckt hatten, war er zu seiner Familie gefahren.

Zu ihm ins südpolnische Stalowa Wola fährt Noncia nach dem Tod ihrer Familie. Bald arbeitet sie dort mit einer Gruppe von Sinti und Roma in der Organisation Todt, einer Arbeitstruppe unter Führung des Nationalsozialisten Fritz Todt, die in den besetzten Gebieten Bahnschienen verlegt, Gleise wartet und kleinere Reparaturarbeiten erledigt. Durch Bestechung schaffen sie es, offiziell als Bahnarbeiter registriert zu werden. Sie bekommen Kennkarten und Ausweise, die es ihnen auch erlauben zu reisen.

Als jemand Noncia von einer Gruppe Roma erzählt, die in der Nähe in einem Wald umgebracht wurde, kommen alle ihre schrecklichen Erinnerungen wieder. «Als sie das gehört hat, ist sie sofort dorthin gefahren», erzählt Parno. In den Überresten des Lagers im Wald findet Noncia ein Kind. Es ist ihr erstes.

Eines der über 50 Kinder, die Romni Noncia gerettet hatte: Karol Parno Gierlinski (hier in seinem Atelier).

Eines der über 50 Kinder, die Romni Noncia gerettet hatte: Karol Parno Gierlinski (hier in seinem Atelier). (Bild: Agnieszka Hreczuk, n-ost)

«Wir haben nie endgültig festgestellt, wer von uns es war», sagt Parno. «Das weiss selbst Noncia nicht mehr. Es kamen später so viele dazu. Sie hat den Überblick verloren. Jedes einzelne war einfach ihr Kind.»

An diesem Tag entscheidet Noncia, ihre Grossfamilie wieder aufzubauen. Im Umkreis von 100 Kilometern fährt sie überall dort hin, wo die Nazis gemordet hatten. Aus den Zügen schmuggelt sie Kinder heraus. Nie wird sie entdeckt. «Die Nationalität war Noncia egal», sagt Parno. Einige Zeit später, als Noncia und ihr Ehemann hinter die Front nach Westen ziehen, bis nach Gorzow, habe sie auch dort verlorene Kinder aufgenommen. Deutsche Kinder.

Auszeichnung, aber keine Entschädigung

Nach Kriegsende sucht Parnos Grossmutter nach Noncia und findet sie bei Danzig. Vier Jahre nach dem Krieg verbringt Parno seine Ferien bei ihr. Er betrachtet Noncia als Ersatzmutter, sie ihn als Sohn. Noncia und ihr Mann verzinnen nach dem Krieg Kessel in einer Molkerei, zudem handelt Noncia mit Teppichen.

Noncia ist heute fast 90 Jahre alt und zu krank, um fremden Besuch zu empfangen. 2006 erhielt sie die zweithöchste zivile Auszeichnung Polens, die Polonia Restituta mit Stern. Doch eine Entschädigung für ihre Verfolgung hat sie nie bekommen. Ihre kleine Rente reicht nur knapp fürs Leben und für Arzneimittel.

Vergangenheitsbewältigung

Parno ist nur einmal nach dem Krieg nach Auschwitz gefahren, an den Ort, an dem seine Mutter und so viele seiner Verwandten starben. Doch: «Ich konnte nicht rein, es ging nicht.» Seine Stimme zittert, er braucht mehrere Zigarettenzüge, bevor er wieder sprechen kann.

Über den Holocaust zu sprechen ist unter Roma ein Tabu. «Wir reden nicht über schlechte Sachen. Über Schmerz, Krankheit, Tod, aus Angst, weil man sie dadurch wieder zurückruft», sagt Parno. Was es nicht heute und nicht hier gibt, das zählt nicht. Im Romani, der Sprache der Roma, gibt es keinen Unterschied zwischen morgen und gestern, beide heissen gleich, tajsa. Weil es im Prinzip unwichtig ist, was passieren wird oder passiert ist. Ändern kann man beides nicht.

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