Island macht vor, wie man sich aus dem Schlamassel der Finanzkrise befreit. Europa sollte sich ein Beispiel an der kleinen Republik nehmen, die vor vier Jahren am Rande des Staatsbankrotts stand.
Ganz Europa ächzt unter der Finanzkrise. Nur ein kleines Land im hohen Norden scheint Licht am Ende des Tunnels zu sehen und sich zum Vorbild zu entwickeln: Die Isländer sind dem Staatsbankrott entkommen; seit 2011 wächst die Wirtschaft der kleinen Inselrepublik wieder.
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und der Internationale Währungsfonds (IWF) sind des Lobes voll, die Ratingagenturen haben Islands Staatsanleihen wieder in den Rang respektabler Geldanlagen erhoben. Schon zweimal konnte sich der isländische Staat problemlos am Kapitalmarkt refinanzieren.
Vor vier Jahren sah das noch anders aus. Am 6. Oktober 2008 rief Ministerpräsident Geir Haarde den Notstand aus, die Insel drohte im Strudel der Lehman-Pleite unterzugehen. Drei isländische Grossbanken, die grössten des Ländchens, waren auf den Zug der internationalen Derivatespekulation aufgesprungen und hatten sich gründlich verzockt.
Island, eine Insel der Fischer und Bauern, hatte dank des internationalen Spekulationsbooms fast über Nacht einen völlig überdimensionierten Finanzsektor verpasst bekommen. Die Bilanzsummen der drei internationalen Spielerbanken Landsbanki, Glitnir und Kaupthing betrugen zusammen mehr als das Zehnfache des isländischen Bruttosozialprodukts.
In Wochenfrist in den Abgrund
Nun ging es in den Abgrund. Innerhalb einer Woche waren die drei Grossspekulanten bankrott. Das Bruttoinlandsprodukt stürzte bis zum Tiefpunkt der Krise um gute 12 Prozent ab. Die Arbeitslosigkeit, bis dahin fast ein Fremdwort in Island, schnellte von unter 2 auf gut 10 Prozent empor, die Inflation auf fast 20 Prozent, das öffentliche Defizit auf 13,5 Prozent und die Staatsschuldenquote von bescheidenen 30 auf 130 Prozent. Die isländische Krona verlor fast 50 Prozent ihres Aussenwerts. Nur dank eines Milliardenkredits des IWF, der nordischen Nachbarländer und Polens konnte die isländische Regierung den Staatsbankrott vermeiden.
Regierung reagiert gnadenlos
Entscheidend war aber etwas anderes: die Art und Weise, wie die isländische Demokratie mit der Finanzkrise umging. Um den Zusammenbruch des Geld- und Kreditsystems zu verhindern, wurden alle Banken im Handstreich verstaatlicht. Danach wurden die drei grossen Zockerbanken in Konkurs geschickt, etliche Banker verhaftet und unter Anklage gestellt, die ausländischen Gläubiger mussten bluten.
Gerettet wurde nur das solide Kerngeschäft im Inland, also Zahlungs- und Kreditvermittlung, Spareinlagen. Die Regierung garantierte die Spareinlagen aller inländischen Sparer bis zu einem Betrag von 20 000 Euro, und sie erzwang einen Schuldenschnitt bei den Hypotheken, der viele Isländer vor dem Verlust ihres Hauses bewahrte.
Weil die Saga im real existierenden Kapitalismus spielt, ging es ohne eine Einigung mit den ausländischen Gläubigern nicht ab. Vor allem die Sparer der Online-Bank Icesave tobten: Rund 300 000 Briten und rund 120 000 Niederländer hatten, angelockt durch fantastische Zinsversprechen, viel Geld investiert und verloren – fast fünf Milliarden Euro die Briten, 1,7 Milliarden die Niederländer. Unter dem Druck der britischen und niederländischen Regierung beschloss das isländische Kabinett ein Gesetz zur Teilentschädigung der Auslandsgläubiger – und das isländische Parlament stimmte zu, mit knappster Mehrheit. Es ging um mehr als 3,8 Milliarden Euro, mehr als zwei Drittel des Staatshaushalts.
Staat verschont Steuerzahler
Doch Islands Präsident Ólafur Ragnar Grímsson verweigerte die Unterschrift unter das Gesetz. Die Isländer waren begeistert und verlangten eine Volksabstimmung. Beim Referendum am 6. März 2010 stimmten 93 Prozent der Isländer gegen das Gesetz.
Die Regierung legte aus Angst um ihre Kreditwürdigkeit ein neues Gesetz vor. Diesmal sollte die Entschädigung bis 2046 in Raten gezahlt werden – jährlich nicht mehr als fünf Prozent der Staatseinnahmen. Wieder verweigerte der Präsident seine Unterschrift, und auch beim zweiten Referendum im April 2011 stimmte eine Mehrheit des Volkes von 57 Prozent dagegen.
Der Versuch, die Verluste der ausländischen Gläubiger auf Kosten der isländischen Steuerzahler zu sozialisieren, scheiterte zum zweiten Mal. Dennoch entkamen die Isländer der Fuchtel ihrer ausländischen Geldgeber nicht. Der IWF, die nordischen Länder und Polen gaben ihre Kredithilfen von 4,75 Milliarden Dollar nicht ohne Auflagen frei.
Aber den Isländern gelang es, die IWF-Gewaltigen von einem Krisenprogramm zu überzeugen, das nach IWF-Massstäben höchst ungewöhnlich war: Sie wurden nicht zu einem Sparplan und Reformpaket à la Merkel verdonnert, sondern konnten ihre eigene Krisenpolitik machen.
Es gab Entlassungen, Lohnkürzungen, Einschnitte bei den Sozialausgaben – aber die Sozialleistungen wurden deutlich weniger beschnitten als andere Staatsausgaben, die Regierung griff den überschuldeten Privathaushalten mit staatlichen Beihilfen und einem Schuldenschnitt unter die Arme.
Steuern wurden erhöht, aber in erster Linie für die Besserverdienenden und Wohlhabenden. Private Investitionsruinen wurden übernommen und mit öffentlichen Geldern fertiggestellt. Die Bauindustrie kam wieder in Gang.
Auch die drastische Abwertung der Krona half. Tourismus, Energie- und Fischexport sowie die IT-Branche profitierten davon. Zwar stiegen die Privatschulden, die viele Isländer in ausländischer Währung eingegangen waren. Dafür ist die Wirtschaft von Importen wenig abhängig, der Absturz der Krona schadet ihr also kaum.
Unter dem Strich begann die kleine, auf wenige international konkurrenzfähige Branchen konzentrierte Wirtschaft wieder zu wachsen. Inzwischen ist die Arbeitslosigkeit auf 4,8 Prozent gesunken. Und das Staatsdefizit wird dank reichlich sprudelnder Steuereinnahmen in diesem Jahr (fast) verschwinden.
Inzwischen hat Island mehr als die Hälfte seiner Auslandsschulden zurückgezahlt, vorzeitig. Fällig wären die Rückzahlungen erst zwischen 2013 und 2018 geworden, aber die Regierung in Reykjavík kann sich das Geld heute am Kapitalmarkt billiger borgen und rund 30 Millionen Euro Zinsen pro Jahr sparen.
Es ist ein Lehrstück für den Rest Europas, für Griechenland, für Spanien, für Irland, für Portugal und andere. Vor allem aber für die Deutschen. Es zeigt, dass der Kurs des Bankenrettens um fast jeden Preis und des Sparens auf Teufel komm raus plus «Reformpakete» im Stil der Agenda 2010 weder ökonomisch vernünftig noch «alternativlos» ist.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 05.10.12 Ursprungspublikation in der deutschen Wochenzeitung «Der Freitag».